Brexit-Streit um Nordirland: Es könnte grenzwertig werden

Grenzkontrollen auf der irischen Insel könnte die Wirtschaft empfindlich treffen. Auch die letzten britischen Vorschläge treffen auf Kritik.

Blick auf eine Flussmündung

Der Newry-River bei Warrenpoint verbindet Nordirland (links) mit der Republik Irland (rechts) Foto: David Keyton/ap

BELFAST/NEWRY taz | Links Idylle wie aus der Butterwerbung, rechts Idylle wie aus der Butterwerbung. Saftig-grüne Wiesen im Abendlicht. Kein Anzeichen einer Grenze – nur wer sehr genau darauf achtet, merkt, dass die weiße, abgenutzte Spurenkennzeichnung irgendwo auf der Straße zwischen dem irischen Dundalk und dem nordirischen Killeen endet – und womöglich mit dem Brexit ab Ende des Monats auch das Gebiet der Europäischen Union.

Eine harte Grenze will hier niemand – das sagt Brüssel, das sagt London. Doch trotzdem droht im Zweifelsfall genau das, wenn nicht noch Bewegung in die verfahrenen Verhandlungen kommt: Auf dem Gebiet der EU sorgen unter anderem die Zollunion sowie der europäische Binnenmarkt dafür, dass die Grenzen offen bleiben können. Zölle fallen nicht an, die Standards etwa für landwirtschaftliche Produkte bleiben dieselben.

Entscheidet sich ein Land auszusteigen, fällt all das weg; auch die Handelsabkommen und Verträge, die Brüssel für die EU mit Drittländern ausgehandelt hat, gelten dann nicht mehr. Unternehmen bräuchten sich nicht mehr an die EU-Standards zu halten, ihre Waren müssten daher kontrolliert werden – auch an der Grenze bei Killeen.

275 Übergänge zählt die fast 500 Kilometer lange Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland heute. Zur Zeit des Nordirlandkonflikts waren es nur 20. Der Gedanke an womöglich wieder drohende Grenzkontrollen befeuern nicht nur die Sorge vor erneuter Gewalt auf der Insel. Die Wirtschaft Nordirlands und Irlands sorgt sich um ihre Handelsbeziehungen, sollte der Brexit für sie Hindernisse bringen.

Könnte Johnsons Lösung den Backstop ersetzen?

Großbritanniens frühere Premierministerin Theresa May hatte solche Kontrollen durch den sogenannten Backstop vermeiden wollen. In ihrem mit der EU verhandelten Austrittsabkommen wirkt dieser als Auffanglösung: Sollten sich Brüssel und Westminster nach der Übergangsperiode Ende 2020 nicht auf ein Handelsabkommen geeinigt haben, bliebe Großbritannien zunächst Teil der Zollunion, Nordirland außerdem Teil des Binnenmarkts.

Doch damit kam May im britischen Unterhaus nicht durch. Brexiteers fürchten, damit für immer in der EU-Handelspolitik gefangen zu sein. Der derzeitige Regierungschef Boris Johnson ließ deshalb weiter nach einer Alternative zu der Garantieklausel suchen und schickte Anfang des Monats seine neuen Vorschläge nach Brüssel.

Deirdre Maguire

„Die Firmen sehen sich nicht als Exporteur“

Seine Lösung: Nordirland behält die Standards des EU-Binnenmarkts, so dass alle Güter, wie landwirtschaftliche Waren, auf der irischen Insel schon mal nicht extra kontrolliert werden müssen. Das nordirische Regionalparlament in Belfast soll alle vier Jahre über diese Regel abstimmen können. Gleichzeitig verlässt das gesamte Vereinigte Königreich, also auch Nordirland, die Zollunion. Zollkontrollen sollen laut Johnsons Brief an Brüssel „dezentralisiert“ über Onlineformulare und Überprüfungen auf Firmengeländen sowie „an anderen Punkten der Lieferkette“ laufen. „All das soll an die feste Vereinbarung (beider Seiten) gekoppelt werden, niemals Grenzkontrollen vorzunehmen“, heißt es.

Inzwischen hat der Premier nachgelegt

Könnte das also der Ersatz sein, die Lösung für den als alternativlos gepriesenen Backstop? Die EU hat Nein gesagt. Inzwischen hat Johnson nachgelegt und es wird über Alternativen verhandelt – die Details sind nicht bekannt.

Declan Billington vom Unternehmerverband Northern Ireland Food & Drink dürfte wissen, wie schwierig die Suche nach diesen Alternativen ist. Der Geschäftsführer des nord­irischen Futtermittelunternehmens Thompsons ist Mitglied eines Expertengremiums, das die britische Regierung zu Backstop-Alternativen berät. Auch Thompsons ist betroffen: 14 Prozent der Waren liefert das Unternehmen an irische KundInnen südlich der Grenze.

An diesem sonnigen Herbsttag sitzt Billington an einem Besprechungstisch im ersten Stock des Firmensitz von Thompsons nördlich des Belfaster Stadtzentrums und erklärt mit leiser Stimme: Johnsons Deal löse immerhin eins von drei großen Problemen der nordirischen Wirtschaft, nämlich das der Kontrollen von landwirtschaftlichen Waren.

Die beiden anderen Probleme seien allerdings riesig: Die Zölle und die Zollpapiere, beziehungsweise der damit verbundene Verwaltungsaufwand. „Wenn wir im Zollgebiet des Vereinigten Königreichs bleiben und wir kein Freihandelsabkommen mit Europa schließen, dann werden diese Zölle kommen und unsere Industrie zerstören“, sagt Billington.

Riesen-Gewinnmöglichkeiten für frühere Paramilitärs

„Die Statistik zeigt, dass 80 Prozent der Unternehmen, die über die Grenze handeln, kleine und ­Mikrounternehmen sind.“ Sie könnten den Aufwand nicht leisten, sagt Billing­ton. Gebe es überdies erst einmal Zolldifferenzen, lohne sich der Schmuggel vor allem von Lebensmitteln, was mit Risiken für die Gesundheit der VerbraucherInnen einhergehe. Damit schaffe man riesige Gewinnmöglichkeiten für frühere Paramilitärs, die über jahrzehntelang etablierte Netzwerke verfügten.

Johnsons Vorschlag beinhaltet zwar Ideen, wie Kleinunternehmen und dauerhafte Lieferketten von Zollformalitäten ausgenommen werden könnten. Doch dafür müsste die EU ihre Regeln für die Zollunion ändern.

Bisher überqueren viele Firmen aus Nordirland sowie Irland die Grenze mehrmals täglich. Bei etwa zwei Dritteln des grenzüberschreitenden Handels handelt es sich laut der nordirischen Statistikbehörde Nisra um Waren in der Lieferkette, die noch weiterverarbeitet werden.

Ein bekanntes Beispiel ist die Lieferkette des irischen Sahnelikör Baileys: Die Milch dafür kommt von 38.000 Kühen vieler verschiedener Bauernhöfe auf der irischen Insel. Bis die Milch an unterschiedlichen Orten zur Sahne weiterverarbeitet, mit Whiskey gemischt und abgefüllt ist, wird die Grenze viele Male überschritten.

Firmen im Grenzgebiet müssen sich vorbereiten

Baileys gehört zu Diageo, dem Spirituosen-Weltmarktführer, verfügt über AnwältInnen und BeraterInnen, die sich um die Grenzfragen kümmern können. Doch die meisten Firmen vor Ort haben weder das Knowhow noch die Zeit, sich intensiv einzuarbeiten.

„Die eine Sache, die uns große oder kleine Unternehmen am häufigsten fragen, ist: Was ist ein Zolltarif und wo kann ich ihn finden?“, sagt Deirdre ­Maguire vom Brexit-Beratungsservice von InterTradeIreland in ­Newry, einer der sechs nach dem Karfreitagsabkommen gegründeten zwischenstaatlichen Behörden, die sich um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf der gesamten irischen Insel kümmern sollen. Bisher mussten sich die Firmen um solche Dinge nicht kümmern: „Sie haben einen Van und fahren von Newry nach Dundalk und sehen sich nicht als Exporteur und Importeur.“

Maguires größtes Problem: InterTradeIreland geht davon aus, dass nur 11 Prozent der Firmen auf der irischen Insel für einen möglichen No-Deal-Brexit vorgesorgt haben. Zeitmangel sei eine der Ursachen, sagt sie. Die Behörde versucht den UnternehmerInnen zum Beispiel mit Gutscheinen für Zoll-Trainingskurse unter die Arme zu greifen.

Der Johnson-Ersatz für den Backstop ist für Nordirlands Wirtschaft ein schwacher Trost. UnternehmensvertreterInnen sind unzufrieden, wie etwa Glyn Roberts von Retail NI, dem Verband der unabhängigen Einzelhändler. Einen „Rohrkrepierer“ nannte Roberts die Vorschläge. Es sei klar, dass die Perspektive der Privatwirtschaft in Nordirland ignoriert worden sei.

Futtermittelproduzent Billington hofft, dass sich noch etwas bewegt. Denn ein No-Deal-Brexit mit den daraus resultierenden Kontrollen wäre ein Desaster, befürchtet Billington – für Nordirlands Wirtschaft sowie den Frieden in der Region. „Normalität war, wegen einer Bombendrohung alle paar Wochen aus einem Gebäude evakuiert zu werden. Normalität war, in Belfast Explosionen zu hören und zu raten, wo sie waren. Und Normalität war, von Leuten mit Waffen durchsucht zu werden, wenn man einkaufen wollte“, erinnert sich Billington. „Ich will nie wieder dahin zurück.“

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