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Bremen weitet Altersfeststellung ausMehr verstrahlte Jugendliche

Dreifach verstrahlt: Bremen will mehr Röntgen für die Altersschätzung junger Geflüchteter. Ärzt*innen kritisieren das als Gesundheitsrisiko.

Sollte man lieber die Finger von lassen, wenn man gesund ist: Röntgenuntersuchung der Hand Foto: dpa

Bremen taz Schon der Begriff ist irreführend und ungenau: Altersfeststellung. Das Geburtsdatum von jungen Geflüchteten per Röntgenuntersuchungen der Zähne oder Handwurzeln zu ermitteln, ist medizinisch umstritten. Schätzen und eingrenzen könne man es höchstens, sagen Mediziner*innen in der Regel. Aber auch das sei naturgemäß fehlerbehaftet. Ganz zu schweigen davon, dass eine nicht medizinisch indizierte Röntgenuntersuchung nach gültiger Rechtslage unter Umständen sogar eine Körperverletzung sein kann.

Das ist vielen Bundesländern, auch Bremen, zunehmend egal geworden. In Streitfällen um das Alter verstrahlen Behörden immer mehr junge Geflüchtete, wenn diese ihr Geburtsdatum nicht mit gültigen Ausweispapieren belegen können. Während es in Hamburg sogar üblich war, Genitalien zu untersuchen, hat sich in Bremen in Streitfällen seit 2015 die Praxis von Röntgenuntersuchungen des Gebisses etabliert.

Ärzt*innen in Bremen, die das mitmachen, finden sich allerdings wenige. Die meisten wollen aus ethischen Gründen keine unnötigen Röntgenuntersuchungen durchführen. Auch Heidrun Gitter von der Bremer Ärztekammer lehnte Bestrahlung aus anderen als medizinischen Gründen ab.

Anders ist es etwa im Hamburger Klinikum Eppendorf, wo der umstrittene Rechtsmediziner Klaus Püschel gerne dazu bereit ist. Dorthin und nach Münster bringt Bremen die jungen Geflüchteten. Und zukünftig soll noch mehr bestrahlt werden. Denn ab sofort hat die Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) das bisherige Verfahren gar ausgeweitet, um die Genauigkeit der Schätzungen zu erhöhen. Das gab sie am vergangenen Donnerstag in der Sozialdeputation bekannt.

Wer sich verweigert, ist raus

Der Senat will jetzt nicht mehr nur das Gebiss durchleuchten lassen, sondern auch noch die Handwurzelknochen verstrahlen. Und wenn das alles immer noch nicht genug Durchblick bringt, soll auch noch ein Computertomogramm (CT) der Schlüsselbeinkochen her.

Man wolle den „allgemein anerkannten“ Empfehlungen der „Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik“ in der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin entsprechen, heißt es mit dem Verweis auf mehrere Beschlüsse aus verschiedenen Bundesländern und der Schweiz. Das forensische Alter werde nach diesen Verfahren keinesfalls zu hoch angegeben, sondern liege immer unter dem faktischen Alter, wie die Sozialbehörde in Bezug auf ein Urteil des OVG Bremen schreibt.

Röntgen kann außer bei einer Erkrankung nie im Sinne des Geflüchteten sein

Hans-Iko Huppertz, Akademie für Pädiatrie

Wenn sich junge Geflüchtete der Bestrahlung verweigern, sind sie raus aus der Jugendhilfe. Dann nämlich entscheidet das Jugendamt auf Grundlage der individuellen Einschätzung ihrer Mitarbeiter*innen aus einer sogenannten „qualifizierten Inaugenscheinnahme“. Dabei beurteilen zwei Mitarbeiter*innen nach ihrem subjektiven Eindruck körperliche Merkmale wie Haarwuchs, Stimmlage, Statur und Gesichtszüge und klopfen die Fluchtgeschichte im Beisein eines Dolmetschers nach Widersprüchen ab. Wenn ihre Zweifel überwiegen, ordnen sie die medizinische Untersuchung an. Und wer da nicht mitmacht, hat keine Chance.

Hans-Iko Huppertz, der Generalsekretär der deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, dem Dachverband für Pädiatrie in Deutschland, hat eine klare Haltung zum Röntgen von jungen Geflüchteten: „Die Behandlung mit ionisierenden Strahlen kann bleibende Schäden im Erbgut von Zellen verursachen, in sehr seltenen Fällen kommt es sogar zu Leukämie. Das kann außer bei einer Erkrankung nie im Sinne des Geflüchteten sein.“

So oder so: negative Folgen

Entweder komme raus, dass er minderjährig sei, dann habe er den Schaden durch die Ionisierung. Oder aber er müsse mit den Folgen leben, dass er volljährig geschätzt werde. Huppertz sagt: „In beiden Fällen hat es negative Folgen für den Jugendlichen – dem kann man weder als Patient noch als Vormund zustimmen.“

Mit jeder Untersuchung steige das Risiko: „Jede Applikation ionisierender Strahlung geht mit einer potentiellen Schädigung einher. Früher dachte man, es gäbe eine unschädliche Untergrenze – das ist allerdings nicht so.“ Auch das CT sei eine Röntgenapplikation.

Auch Marc Millies vom Bremer Flüchtlingsrat kritisiert die Ausweitung der Praxis: „Es geht um den Schutz der Kinderrechte und der körperlichen Integrität.“ Wie der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Bumf) ist er der Meinung, dass im Zweifel immer die Bedürfnisse des Jugendschutzes überwiegen.

Grundsätzliches Misstrauen?

Zudem könne die Papierlosigkeit von Geflüchteten viele nachvollziehbare Gründe haben, darüber hinaus zweifelten die Ämter auch gültige Dokumente wie Geburtsurkunden an. „Die ordnungspolitische und medizinische Herangehensweise des Senats an dieses Thema ist befremdlich“, sagt Millies.

Tatsächlich klingt grundsätzliches Misstrauen auch in der Mitteilung des Senats durch, wenn es zum „Hintergrund“ heißt: „Junge Flüchtlinge aus Ländern, die in Asylverfahren als relativ sicher gelten, sehen die Jugendhilfe oft als eine der wenigen Möglichkeiten an, in Deutschland zu bleiben … um auf lange Sicht damit auch ein dauerhaftes Bleiberecht zu erwirken.“

Millies fragt: „Wenn das Recht des Kindes und des Jugendlichen das höchste Gut ist – warum ist das in Zweifel zu ziehen?“

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9 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Am 14. April 2014 ist das 3. Fakultativprotokoll zur Kinderrechtskonvention, das ein Individualbeschwerdeverfahren beinhaltet, in Kraft getreten.

    www.kinderrechtsko...rdeverfahren-3892/

  • "Zudem könne die Papierlosigkeit von Geflüchteten viele nachvollziehbare Gründe haben, darüber hinaus zweifelten die Ämter auch gültige Dokumente wie Geburtsurkunden an."

    Das darf natürlich nicht ohne Beweise geschehen. Die Unschuldsvermutung darf ein Rechtsstaat nie vergessen!

  • "Das Geburtsdatum von jungen Geflüchteten per Röntgenuntersuchungen der Zähne oder Handwurzeln zu ermitteln, ist medizinisch umstritten. Schätzen und eingrenzen könne man es höchstens, sagen Mediziner*innen in der Regel. Aber auch das sei naturgemäß fehlerbehaftet."

    Das bedeutet, dass man das juristisch z.B. vor Gericht nicht verwenden kann. Somit ist das Steuergeldverschwendung und eine Vorgehensweise, die gegen die Rechtsstaatlichkeit gerichtet ist!!!

  • Wenn ein Mensch in Deutschland, egal welcher Nationalität, z. B. 30 Jahre gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt hat und dann eine Erwerbsminderungsrente beantragt, was geschieht dann wohl? Dann wird er medizinisch darauf untersucht, ob die Voraussetzungen für die Sozialleistung erfüllt sind, also ob und wie lange am Tag er noch arbeiten kann. Und wenn es bei der Untersuchung auf ein Röntgenbild ankommt, dann wird er geröntgt. Und wenn er sich weigert, sich röntgen zu lassen, dann bekommt er die Sozialleistung nicht. Das ist seit vielen Jahrzehnten selbstverständlich, und ich habe nie Protest dagegen vernommen, weder aus der Ärzteschaft noch sonstwoher.

    Bei der Altersfeststellung von Flüchtlingen geht es um die Feststellung der Minderjährigkeit als Voraussetzung von Sozialleistungen, die jährlich eher mehr kosten als die Erwerbsminderungsrente für einen Durchschnittsverdiener. Wer sich nicht röntgen lässt, muss damit rechnen, die betreffenden Sozialleistungen nicht zu erhalten.

    Wieso ist das eine seit Jahrzehnten selbstverständliche Praxis und das andere "unethisch"? Gibt es für arbeitende Menschen eine andere Ethik als für Flüchtlinge?

    • @Budzylein:

      Sie unterscheiden nicht Kinder und Erwachsene.

      Und betreffend das Thema, das sie ansprechen, gilt zum Beispiel:

      ... Die Diagnostik muss angemessen und zumutbar sein; ein Routineprogramm ist abzulehnen.



      Die Wirtschaftlichkeit muss beachtet werden.



      Entsprechend der Röntgenverordnung sind bereits erstellte Röntgenbilder beizuziehen.



      Röntgenaufnahmen, die in ein anderes Fachgebiet gehören, sind grundsätzlich nicht zu erstellen.

      www.deutsche-rente...gutachtung_pdf.pdf

      Außerdem gibt es unterschiedliche Interessen, wenn Diagnostik zur Feststellung der Erwerbsminderung stattfindet, sowie die Möglichkeiten der Zweitmeinung und freien Arztauswahl auch.

      • 8G
        83492 (Profil gelöscht)
        @Stefan Mustermann:

        "Die Wirtschaftlichkeit muss beachtet werden."

        Sie sollten besser nicht mit Wirtschaftlichkeit argumentieren. Bei den Mehrkosten für Unterbringung von Minderjährigen gegenüber Erwachsenen sind die Kosten einer Röntgenuntersuchung 0.

        Hier ein Beispiel aus Bremen: "Die Kosten für die Betreuung belaufen sich pro Jugendlichen auf 360 Euro am Tag. "



        www.taz.de/!5435917/

  • Die Strahlenbelastung bei Zähnen liegt bei 0,02 mSv. Bei den Händen dürften es wohl um die 0,1 mSv sein. Zum Vergleich die Strahlenbelastung eines 10h währenden Fluges liegt bei 0,1 mSv. Ich fände diese Zahlen gehören in einen solchen Artikel hinein, um dem Leser mal Orientierungshilfen zu geben.

    Das der Staat bei fehlenden Papieren nach Möglichkeiten sucht die Angaben zu verifizieren halte ich im übrigen für absolut legitim.

    • 9G
      98589 (Profil gelöscht)
      @insLot:

      Ich stimme Ihnen zu!



      Es wird ein einziges Mal geröntgt . Diese Strahlenbelastung ist vertretbar.



      Handystrahlung ist auch umstritten, doch niemand kümmert dies oder fordert Konsequenzen.



      von daher finde ich diese Diskussion absurd.



      Dei hand meines Sohnes wurde vor über 40 Jahren geröntgt.Es ging darum eine schwere Erkrankung auszuschliessen und festzustellen, welche Körpergröße er erlangen würde.



      Die Angaben waren exakt und genau.



      Er hat das Röntgen unbeschadet überstanden und ist völlig gesund.

      Solche Mimimidiskussionen sind eher schädlich.

    • @insLot:

      Inslot@"Das der Staat bei fehlenden Papieren nach Möglichkeiten sucht die Angaben zu verifizieren halte ich im übrigen für absolut legitim."



      Grundsätzlich ja, aber die medizinische Altersfeststellung ist so ungenau und auch wissenschaftlich so umstritten, dass sie sich dafür nicht eignet.



      Meiner Ansicht nach ist in dem Zusammenhang das exakte biologische Alter auch viel weniger wichtig als die Frage, ob der junge unbegleitete Flüchtling eine Betreuung durch die Jugendhilfe braucht oder nicht. Das ist durch die "Inaugenscheinnahme" der JugendamtssozialarbeiterInnen besser festzustellen als durch eine medizinische Untersuchung. Im Zweifelsfall ist ein 19jähriger in der Jugendhilfe besser aufgehoben als im Männerwohnheim, die Integrationschancen sind dadurch deutlich besser.