Braunkohleabbau in der Türkei: Bittere Oliven
Für Mustafa Saregül könnte es die letzte Ernte werden. Ein tiefes Loch soll seine Gärten vernichten. Doch jetzt regt sich Widerstand.
M ustafa Saregül wirkt auf den ersten Blick eher wie ein gemütlicher Typ. Groß, leichter Bauchansatz und immer zu einem Scherz aufgelegt, plaudert er in aller Ruhe über seine Arbeit, während er durch seinen ausgedehnten Olivenhain schlendert. Ein erster Herbststurm in der vergangenen Nacht hat viele reife Oliven von den Bäumen gefegt. „Die müssen wir jetzt möglichst schnell aufsammeln, damit sie nicht zu faulen beginnen“, sagt Saregül.
Während andere Bauern schon im November geerntet haben, hat er noch abgewartet. „Nach den ersten Regentagen werden sie voller und geben mehr Öl“, erklärt Saregül. „Deshalb habe ich gewartet.“ Jetzt wird es aber Zeit. Mehrere Familienmitglieder sind mitgekommen, um die Ernte einzubringen.
Auf mehreren Hektar verteilt stehen Hunderte Olivenbäume, die seit Generationen von Saregüls Familie bewirtschaftet werden. „Viele Bäume, die jetzt gute Ernten abwerfen, haben schon mein Großvater und dessen Vater gepflanzt“, erzählt er. Der Olivenanbau erfordert ein Bewusstsein für die lange zeitliche Distanz. Saregül zeigt auf einige junge Bäume. „Auch ich habe bereits für die kommenden Generationen vorgesorgt.“
Doch Mustafa Saregüls generationenübergreifendem Olivenanbau, wie er schon seit Jahrtausenden an der Ägäisküste betrieben wird, droht nun ein abruptes Ende. Wenn man den Hain durchquert, steht man plötzlich an einer scharfen Kante, von der ab es steil nach unten geht. Der Anblick könnte kaum in stärkerem Kontrast zu den silbergrün schimmernden Olivenhainen stehen.
Mustafa Saregül, Olivenbauer
Unter uns breitet sich eine gigantische tiefe Grube aus, die wie eine große Wunde die Landschaft durchzieht. Bagger reißen die Erde weiter auf, Lastwagen mit traktorhohen Rädern kurven durch die Abraumhalde und laden die Braunkohle, die hier mit großen Maschinen aus den Erdschichten herausgelöst wird, auf ihre Hänger.
Angewidert schaut Mustafa Saregül in die Tiefe. „Vor zehn Jahren standen hier noch Tausende Olivenbäume, jetzt ist da nur noch ein von Kohlestaub überzogener Höllenschlund“, sagt er. Das Schlimmste aber sei: „Unser Olivenhain soll als nächstes dem Braunkohletagebau zum Opfer fallen. Doch das akzeptieren wir nicht.“ Der gemütliche Saregül bekommt einen zornigen Ausdruck im Gesicht, als er bekräftigt, dass er und alle anderen aus dem Dorf bereit sind, sich dem Tagebau in den Weg zu stellen. „Zur Not mit unseren Körpern“, wie er sagt.
Das Dorf İkizköy, in dem Mustafa Saregül und seine Familie seit Generationen leben, besteht aus vier Weilern, die durch Felder und Wälder voneinander getrennt sind. Unweit der Hauptkreuzung von İkizköy, auf einer Lichtung im Wald, haben Dorfbewohner und Aktivisten aus den nahegelegenen Städten Milas, Bodrum und der Provinzhauptstadt Muğla ein Widerstandsdorf aus Zelten und Bauwagen aufgebaut, dass es mittlerweile zu türkeiweiten Bekanntheit gebracht hat. Politiker der linken und sozialdemokratischen Parteien waren bereits dort, sogar die Nationalistenführerin Meral Akşener stattete dem Hüttendorf von İkizköy einen Besuch ab.
Widerstand, der bleibt
„Es ist das erste Mal, dass in der Türkei ein solcher Widerstand gegen einen großen Energiekonzern so lange durchgehalten wird“, sagt die Umweltaktivistin Deniz Gümüsel von der Umweltplattform in Muğla. „Im Juni, als der Kraftwerksbetreiber den ersten Versuch unternommen hat, die Bäume hier zu fällen, haben wir das Dorf aufgebaut. Seitdem sind immer Leute von uns da und bewachen den Wald“, erzählt Gümüsel.
Besonders absurd sei die Situation geworden, als im Hochsommer in der gesamten Region die Wälder brannten. „Selbst inmitten dieser Katastrophe, wo alle Kräfte an der Brandlinie gebraucht wurden, hat die Betreiberfirma einen Trupp losgeschickt, der unter dem Vorwand der Brandbekämpfung hier die Bäume fällen wollte, statt bei der wirklichen Brandbekämpfung mitzuhelfen.“
Erneuerbare holen auf In der Türkei sind die erneuerbaren Energien auf dem Vormarsch. Vor allem die Anzahl der Windräder hat enorm zugenommen, aber auch Sonnenenergie und Geothermik zur Beheizung von Gewächshäusern liegen im Trend. Nach Angaben der Turkish Electricity Transmission Company erzeugt die Türkei mit Stand Oktober 2021 insgesamt 99,05 Gigawatt Strom jährlich. Kohlestrom hat mit einem Anteil von 35 Prozent zwar immer noch die größte Bedeutung, doch mit einem Anteil von 31 Prozent liegt die durch Wasserkraft erzeugte Elektrizität bereits dicht auf.
Wasser an der Spitze Insgesamt erfolgt die Stromerzeugung mittlerweile rund je zur Hälfte durch fossile Energieträger, vor allem Kohle und Gas, und zur anderen Hälfte aus erneuerbaren Energien. Wasserkraftwerke liefern rund 31 Gigawatt Strom, Windräder etwa 10 Gigawatt, 7 Gigawatt entstammen Sonnenkollektoren und etwa 2 Prozent werden durch Geothermik gewonnen.
Auslaufmodell Kohle? Die Stromgewinnung durch Wasserkraft gilt als nahezu ausgeschöpft, weil mittlerweile fast jeder Fluss durch Dämme oft mehrfach aufgestaut ist. Das Potential bei Wind- und Sonnenenergie ist noch enorm. Das internationale Wirtschaftsforum Regenerativer Energien (IWR) und die Nichtregierungsorganisation Beyond Coal haben ausgerechnet, dass Investitionen in Höhe von 28 Milliarden Dollar in Wind- und Sonnenenergie ausreichen würden, um in wenigen Jahren die Kohleverstromung überflüssig zu machen. (JG)
Deniz Gümüsel gehört zu den Umweltaktivistinnen, die seit Monaten die Dörfler von İkizköy mit wissenschaftlichem Know-how und juristischem Rat unterstützen. Befreundete AnwältInnen mit Erfahrung im Umweltrecht haben im Namen der Dorfbewohner geklagt und immerhin erreicht, dass ein Gericht in Muğla eine einstweilige Anordnung erlassen hat, die verbietet, dass die Bäume gefällt und so vorzeitig Fakten geschaffen werden. Ein Urteil in der Hauptsache steht noch aus. Nicht weit von İkizköy entfernt, in Turgut, hat eine Bäuerin einen anderen Prozess gewonnen. Doch ihr Haus ist das letzte, was in ihrem Dorf noch steht.
„Das“, sagt Gümüsel, „war schon ein unerwarteter Erfolg. Die Betreiber des Kohlekraftwerkes Yeniköy, für das die Braunkohle aus İkizköy bestimmt ist, gehört der Limak Holding, einem der größten und mit der Regierung eng verbundenen Konzerne in der Türkei. Das Kraftwerk Yeniköy ist nur eins von dreien in der Region, das für die Limak Holding Kohle verbrennt.
Angefangen von Yatagan im Norden zieht sich über 50 Kilometer parallel zur Küste ein Braunkohleabbaugebiet nach Südwesten bis hin zum Golf von Gökova. Von diesen landschaftsvernichtenden Braunkohlegruben werden die Kraftwerke in Yatagan und Yeniköy, sowie weiter südlich, direkt am Golf, der Meiler in Kemerköy, mit Kohle beliefert.
Mehr Kohle zur Verstromung
Zwar hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan anlässlich der Klimakonferenz in Glasgow zugesagt, dass die Türkei bis zum Jahr 2053 klimaneutral sein soll. Doch statt den Braunkohleabbau wenigstens langsam zurückzufahren, sehen die Pläne einen weiteren Ausbau der Kohleverstromung vor. Die Türkei will ihre Abhängigkeit von Öl und Gasimporten reduzieren und dafür weitere Kohlekraftwerke bauen oder die Laufzeiten der bestehenden Kraftwerke verlängern.
Neben dem Braunkohlerevier im Südwesten, dem außer İkizköy noch weitere elf Dörfer zum Opfer fallen sollen, geht es dabei um große Braunkohlelager in Elbistan in Zentralanatolien und dem Steinkohlezentrum in Zonguldak am Schwarzen Meer. Rund um Elbistan sind sehr große Braunkohlevorkommen nachgewiesen, für deren Abbau die Regierung derzeit ausländische Investoren sucht. Doch das wird zunehmend schwieriger, weil sich Kohleverstromung kaum noch rechnet. Deshalb musste schon der Bau von drei neuen Kohlekraftwerken mangels Investments abgesagt werden.
Umso mehr will man jetzt aus den existierenden Kohlekraftwerken noch mehr herausholen. Die Meiler im Südwesten, insbesondere der größte in Yatagan, gelten als Dreckschleudern. Gebaut in den 1980er und frühen 1990er Jahren auf der Basis polnischer Technik, hätten sie längst vom Netz gehen müssen. Stattdessen wurden die Anlagen 2014 privatisiert und bekamen eine 25 Jahre lange Laufzeitverlängerung unter der Voraussetzung, dass ihre Umweltverträglichkeit nachgebessert werden sollte. Modernisiert worden sei jedoch kaum etwas, sagt der Umweltaktivist Gümüsel. Stattdessen werde die Produktion noch weiter hochgefahren, weshalb auch die Kohleabbaugebiete vergrößert werden sollen.
Dabei wird eine uralte Kulturlandschaft zerstört, die bis auf die griechischen Kolonisten zurückgeht, die um das Jahr 500 vor unserer Zeitrechnung damit begannen, Olivenbäume zu pflanzen. Spuren dieser ersten Siedler finden sich an vielen Stellen. Auch in İkizköy, dem Heimatort des Olivenbauern Mustafa Saregül, ist derzeit ein Team von Archäologen am Rande eines Dorfes, dessen Bewohner bereits vertrieben worden sind, dabei, eine Notgrabung durchzuführen. Interessante Funde kommen in das Museum der Provinzhauptstadt Muğla, der Rest wird weggebaggert.
Am Abend kommen etliche Dorfbewohner in das Widerstandscamp, um über die nächsten Schritte zu beraten oder auch nur um zwanglos miteinander zu plaudern. Der Aufreger in diesen Tagen ist allerdings nicht die Bedrohung ihrer Dörfer, sondern ein Ereignis in Mazıköy, einem rund 30 Kilometer entfernten Dorf mitten im Brandgebiet des letzten Sommers.
Rätselhafte Änderungen in den Besitztiteln
Dort haben einige Bauern eine verstörende Entdeckung gemacht. Als sie wegen etwaiger Entschädigungen für ihre teilweise verbrannten Olivenhaine in die Grundbücher beim Liegenschaftsamt schauten, mussten sie feststellen, dass der türkische Staat ohne ihr Wissen dort einen Vorbehalt hat eintragen lassen, nachdem das Grundstück „im Bereich geplanter Energieanlagen für erneuerbare Energie“ liegt. Schnell machte das Wort einer drohenden Enteignung die Runde.
Rana Öztürk, die seit 20 Jahren in Mazıköy lebt und für die Naturschutzorganisation Tema arbeitet, ist empört. „Ich habe dem Bürgermeister gesagt, wir müssen eine Dorfversammlung durchführen und beraten, was wir nun tun wollen. Ich fand, das Dorf muss sich gemeinsam dazu verhalten“, erzählt sie. Bei einer Versammlung wurde erst einmal beschlossen, einem Anwalt eine gemeinsame Vollmacht auszustellen, damit der sich im Katasteramt in Muğla genauer informieren kann. Noch rätselt man im Dorf weiter, was diese Eintragungen in den Grundbüchern bedeuten könnten.
Von Mazıköy aus schaut man direkt auf die Ägäis, auf den Berghöhen über dem Dorf weht es in aller Regel kräftig. Die für Windkraft ausgewiesenen Bereiche entlang der Ägäisküste legen nahe, dass es sich bei den genannten Energieanlagen um Windräder handeln muss.
Doch die betroffenen Grundstücke liegen gar nicht auf den Hügeln, sondern in den Tälern rund um Maziköy. Remzi Özkök, Olivenbauer im Ort, zeigt uns sein Grundstück das mit dem rätselhaften Vermerk versehen worden ist. Zunächst geht es mit dem Auto einige Kilometer hinaus aus dem Dorf und dann zu Fuß weiter durch einen apokalyptisch aussehenden verbrannten Wald, in dem nur noch verkohlte Baumstümpfe emporragen. Nach einem strammen Marsch über regennasse lehmige Pfade kommen wir zu einem großen Tal, in dem Hunderte Olivenbäume stehen, von denen ebenfalls ein Teil verbrannt ist. Remzi Özkök gibt uns einen Zettel auf dem die Gemarkung und die Nummer der Parzelle seines Olivenhains stehen. Wenn wir ihm nicht glaubten, könnten wir ja im Grundbuchamt nachschauen.
Tatsächlich ist es schwer zu glauben, dass auf diesem Stück Land Windräder gebaut werden sollen, während die Berghöhen in einiger Entfernung dazu gewiss viel geeignet wären. Özkök vermutet deshalb, dass man ihm unter einem Vorwand sein Land wegnehmen will.
Er hat nichts gegen den Bau von Windparks auf den dafür geeigneten Bergkuppen, aber er ist empört über das intransparente Verfahren, mit dem der Staat ihn konfrontiert. „Zwei Monat vor den Waldbränden wurden die staatlichen Vorbehalte in die Grundbücher geschrieben, man muss naiv sein, um da keinen Zusammenhang zu sehen“, sagt auch Rana Öztürk. Sie, die Vertreterin von Tema, einer der ältesten Naturschutzorganisationen der Türkei, befürwortet Windenergie, auch deshalb, um möglichst schnell die Braunkohleschleudern in Yeniköy, Yatagan und Kemerköy stilllegen zu können. Aber dazu gehöre „eine vernünftige Umweltprüfung und ein transparentes Verfahren“, sagt sie.
Sowohl Rana Öztürk als auch Deniz Gümüsel vom Widerstandsdorf in İkizköy sind misstrauisch, was der Staat da eigentlich plant. Gümüsel mutmaßt, dass es genau wie bei den Kohlekraftwerken auch bei der Windkraft wieder um die Gunst eines Großinvestors und nicht um die Interessen der örtlichen Bevölkerung gehen könnte.
In der Region ist bereits ein großer Windkraftbauer aktiv. Der türkische Ableger der deutschen Unternehmens Enerkon ist der größte Windanlagenbauer in des Landes und rühmt sich auf seiner Website damit, erst jüngst mit einem Windpark in der Osttürkei die Marke von zwei Gigawatt erzeugter erneuerbarer Energie im Land überschritten zu haben. Arif Günyas, der Türkeichef von Enerkon, schreibt, der Konzern sei „zuversichtlich, dass die Türkei auch in Zukunft eine stabile Basis für die ehrgeizigen Ziele der erneuerbaren Energien ermöglichen wird“.
„Die wollen in Mazıköy einfach freie Bahn haben“, vermuten Deniz Gümüsel und Rana Öztürk. „Damit werden die erneuerbaren Energien bei der Bevölkerung genauso in Misskredit gebracht, wie die Braunkohlekraftwerke“, befürchtet Öztürk.
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