: „Brauchen wir die CDU noch?“
■ Der konservative Historiker Michael Stürmer befürchtet ein Scheitern des Selbstreinigungsprozesses der Parteien. Dann, meint er, drohen uns „die Herrschaft der Unzufriedenen“ und schlimmstenfalls Verhältnisse wie in der Weimarer Republik
taz: Je länger die Spendenaffäre andauert, desto heftiger bangen selbst politische Gegner um den Fortbestand der CDU. Was soll so unentbehrlich sein an den Christdemokraten?
Michael Stürmer: Die CDU ist nach 1945 als eine Sammlungsbewegung entstanden, wie es sie nie vorher in diesem Land gab. Sie hat Kräfte integriert, die sich in Deutschland seit Beginn der Parteienbildung im 19. Jahrhundert feindselig gegenüberstanden. Dazu gehörten zum Beispiel Protestanten und Katholiken, Arbeitnehmer und Unternehmer. In der heutigen Lage zählt vor allem eine Integrationsleistung zu den großen Erfolgen: Die CDU band das national-konservative Lager in eine mehrheitlich liberale, proeuropäische und vor allem demokratische Partei ein. Das war völlig neu für Deutschland. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe von 1945 ist es erstmals geglückt.
Um den Preis, dass die CDU selbst zur Rechtspartei wurde.
Die CDU ist alles andere als eine Rechtspartei. Auffallend am deutschen Parteienwesen ist ja, dass es keine echte Rechte gibt wie etwa in Frankreich. Trotzdem haben es CDU und CSU geschafft, alle diejenigen aufzunehmen, die nach 1945 auf der Suche nach einer neuen rechten Heimat waren. Das war die staatspolitisch unersetzbare Funktion der Union in den vergangenen 50 Jahren.
Was wäre sonst passiert?
Da muss man nach Weimar schauen, wo sowohl auf der Rechten wie der Linken eine große, flügelüberspannende Volkspartei fehlte. Das Parteiensystem glich damals einer Brücke ohne Pfeiler rechts und links. So eine Brücke kann nicht halten. Auch heute darf man nicht vergessen: Die Integrationsleistung der CDU ist natürlich nicht ein für allemal geleistet. Diese Arbeit muss immer wieder geschehen.
Wenn nun im Zuge der Spendenaffäre die Bindekräfte der CDU nachlassen, beginnen dann die rechten Kräfte in der Gesellschaft wieder zu vagabundieren?
Es gibt Potenziale. Ob die sich entfalten und Raum greifen, hängt auch stark von der SPD ab. Falls dort aus der „neuen Mitte“ einmal etwas Dauerhafteres wird als eine Wahlkampfidee, dann würde das einiges an Unzufriedenheit aufsammeln. Dasselbe gilt für die CDU und ihr Bemühen um die Mitte. Mit den gegenwärtigen Affären ist die deutsche Parteiengeschichte ja noch nicht zu Ende.
Flugskandal, Vermächtnisaffäre, Kohls schwarze Konten – die Politiker von links bis rechts wirken im Strudel ihrer Verfehlungen zunehmend hilflos. Woher kann noch Rettung kommen für das deutsche Parteiensystem?
Gerade jetzt brauchen wir zwei große Parteien in Opposition und Regierung, die um die Mitte der Gesellschaft mit den Argumenten der Mitte konkurrieren. Nur durch eine Demokratie der Mitte kann so etwas wie Selbstreinigung überhaupt stattfinden. Wenn uns die misslingt, schaut’s böse aus.
Und was passiert dann?
Wenn wirklich alles schief geht, werden wir die Herrschaft der Unzufriedenen erleben.
Wohin werden sich die Unzufriedenen wenden?
Wie immer nach ganz links und nach ganz rechts, das zeigt Weimar. Ich sehe nicht, dass wir heutigen Deutschen so viel weiser und moralischer sind als unsere Weimarer Vorfahren. Wenn die Lage entsprechend ist, dann können sich durchaus wieder Weimarer Verhältnisse einstellen. Die PDS will jetzt in Westdeutschland den Boden gewinnen, der ihr bislang noch fehlt. Gleichzeitig feiert sie die Tradition von „Karl und Rosa“, wie es so schön heißt.
Und die Rechte?
Die Rechte ist bisher ortlos. Vorerst fehlt ihr eigentlich alles. Sie hat kein Programm und, wichtiger noch, keine „Führer“. Aber warum gibt es bei uns noch keinen Haider wie im Nachbarland Österreich? Die Frage stellt sich nicht heute oder morgen, aber vielleicht in fünf Jahren. Wenn erst mal die Konjunktur kritischer wird und der Sozialstaat in die vorhersehbare Überlastung hineintreibt – was ist dann?
Sie beschreiben das Ausfransen des rechten Randes. Die typischen CDU-Wähler sind doch rheinische Hausfrauen und sächsische Lehrer. Warum sollten die sich so stark nach rechts orientieren, nur weil ihre Partei in der Krise steckt?
Rheinische Hausfrauen werden weiterhin wählen, was rheinische Hausfrauen wählen. Aber wenn das Vertrauen in eine Partei verfällt, verfällt ihre Bindungswirkung. In der Folge verbreitern sich die Ränder. Wenn die nicht gebunden werden können, splittern sie ab, und dann passieren alle möglichen Dinge. Die NS-Bewegung bestand auch nicht aus lauter Extremisten, das waren nicht alles Verbrecher. Deren Soziologie war ziemlich breit gefächert – mit einer Menge Kleinbürger als Kern. Auch bei der KPD waren beileibe nicht alle Sympathisanten Spartakuskämpfer.
Sie haben der Integrationsleistung der Union einmal eine „moralische Qualität“ bescheinigt. Zerstört jetzt das moralische Versagen von Helmut Kohl das Fundament der CDU?
Nein, die Leute sind nicht so kindisch, dass sie zu Politikern wie zu Heiligen oder Göttern aufblicken. Sie wissen, dass Politiker den Versuchungen der Macht so widerstehen, wie Menschen ihnen widerstehen, nämlich unvollkommen. Wir wissen doch, dass Politiker schwache Menschen sind – genauso wie wir selbst. Wolfgang Schäuble brachte es auf den Punkt: Wir sind Sünder allzumal.
Da macht er es sich mit seinen Sünden aber denkbar einfach – und Sie es sich mit ihm.
Nein, ich sehe nur noch nicht, dass die Idee kaputt ist, Deutschland sei mit dem Parteiensystem seit 1945 beziehungsweise 1949 im Wesentlichen gut gefahren. Was ich sehe, sind berechtigte Emotionen und vor allem viel Ärger. Die Parteien haben sich überfressen. Das ist falsch und führt zu unangenehmen Erscheinungen. Aber die derzeitige Aufgeregtheit in Berlin muss man eher etwas dämpfen. Die rheinische Hausfrau hat andere Sorgen, die Republik hat andere Sorgen: Die Wirtschaft, die Arbeitslosen, die Rente.
Jetzt machen Sie sich’s zu bequem.
Gar nicht, aber die Deutschen neigen dazu, die Demokratie zu verklären. Die Demokratie verzichtet im Grunde darauf, Werte einzufordern. Nur Diktaturen behaupten, sie beruhten auf Werten. Damit rechtfertigen sie dann den besonders rücksichtlosen Gebrauch ihrer Macht. Die Demokratie legitimiert sich durch Verfahren, nicht durch ihre Inhalte. Deshalb müssen die Parteien wieder Respekt vor Satzungen und Institutionen lernen – und vor den Regeln, die darin festgelegt sind.
Aber darin liegt doch das Ausweglose dieser Krise: Ausgerechnet die Gesetzesschöpfer entpuppen sich als Gesetzesbrecher.
Aber deshalb muss eine solche Krise keineswegs in den Untergang führen. Die Demokratie ist ein Machtmechanismus, nicht mehr und nicht weniger. Das bietet die Chance, regulierend einzugreifen. In totalitären Systemen ist ein solches Korrektiv nicht vorgesehen. Ihr Anspruch ist, perfekt zu funktionieren. Ich bin ganz optimistisch, dass sich die Einsicht in die Fehlbarkeit von Politikern auch hier zu Lande durchsetzt, ohne dass deshalb sofort das politische Sytem in Frage gestellt wird. Die Deutschen sind reif genug für diese Krise. Sie hätte uns besser nicht im Jahr 1955 treffen sollen, zehn Jahre nach dem Neuanfang.
Die Ostdeutschen trifft die Krise zehn Jahre nach ihrem Neuanfang.
Es gibt in der Tat einen wesentlichen Unterschied im Umgang von Westdeutschen und Ostdeutschen mit der Affäre. Im Westen ist die Auseinandersetzung Gegenstand einer sehr ausdifferenzierten Diskussionskultur. Es wird geschwätzt, geschwätzt, geschwätzt. Das hat auch sein Gutes – es ist ein psychotherapeutisches Schwätzen. Im Osten wird vieles unterdrückt, es wird in Bitternis ausgeschwitzt.
Was muss sich in Deutschland insgesamt ändern?
Die Parteien müssen Schluss machen mit ihren feudalen Gefolgschaftsverhältnissen. Aber es geht um alle Parteien. Schadenfreude ist nicht angebracht! Ich sehe keine Partei, die das moralische Recht hätte, mit dem Finger auf die anderen zu zeigen. Am allerwenigsten die PDS, über deren Milliarden und ihren Verbleib jede Spekulation erlaubt ist. Auch die FDP hat in der Flick-Affäre nicht gerade geglänzt. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Bisher steht die Kehrwoche der Parteien noch aus.
Eine Woche politischer Frühjahrsputz reicht?
Dies ist das Fegefeuer. Das dauert bekanntlich etwas länger. Entweder die Parteien kommen geläutert heraus – oder sie schmoren bis in alle Ewigkeit.
Interview: Patrik Schwarz
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