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Brasiliens zweite Moderne

Geschichte und Widerspruch: Mit Gilberto Gil dockt die tropikalistische Linke am Dienstag im Stadtpark an verwandte subversive Pop-Spielweisen an – er covert Bob Marley

Diese Musik war Soundtrack gegen die Diktatur, musikalisch Opposition

von ROGER BEHRENS

Für eine kritische Theorie der Massenkultur ist Brasilien bestätigende Ausnahme der derzeitigen Lage der so genannten Kulturindustrie: Mehr als in anderen Ländern gibt es hier eine bis heute enge Beziehung zwischen dem, was einmal Volkskultur genannt wurde, und den massenproduzierten Derivaten; es gibt zudem gewissermaßen zwei Kulturindustrien: eine des international nivellierten Mainstreams, eine des brasilianischen Mainstreams. Selten haben regionale Stereotypen mehr weltweiten Einfluss gehabt, etwa in der Popmusik; haben Samba und Bossa Nova den Jazz beeinflusst, haben Rhythmen Fusion Jazz geprägt, basiert neuere Dancefloormusik, NuJazz und dergleichen, auf brasilianischen und elektronischen Mixturen. Und kein Musikstück wurde weltweit häufiger gecovert als „Garota de Ipanema“ von Tom Jobim.

Während gemeinhin die Erfolge der Kulturindustrie mit der Demokratie in Zusammenhang gebracht werden, ist Brasiliens Massenkultur wohl die einflussreichste unter Bedingungen der Militärdiktatur gewesen. In den späten Sechziger und Siebziger Jahren hat sich eine globale Popkultur herausgebildet, in zähen Oppositionen von Subkultur und Kommerzialisierung entstanden zwischen Punk und Disco einige hundert Stile, die noch heute das Bild einer vermeintlich pluralen Popkultur prägen. In Brasilien regierte das Militär und führte sein Regime vor allem gegen Intellektuelle und Arbeiter, die sich an den kulturellen Nahtstellen formierten: im Tropicalismo, die zweite Moderne Brasiliens, nachdem in den Fünfzigern Samba zum Bossa Nova modernisiert worden war.

Es ist ein linker Tropikalismus, in gewisser Hinsicht vergleichbar mit dem, was sich hier im letzten Jahrzehnt als Kulturlinke und Popdiskurs herausgebildet hat. Tropicalismo ist eine Bewegung, die mit Namen wie Caetano Veloso, Elis Regina, Rita Lee, Jorge Ben oder Milton Nascimento verbunden ist, vor allem aber mit Gilberto Gil. Das Konzept des Tropicalismo kann mit dem – nur auf Portugiesisch funktionierenden – Wortspiel bezeichnet werden: Tradição (Tradition) und Contradição (Widerspruch) zusammenbringen, alles nämlich, was es in der Geschichte Brasiliens bisher an Musik gibt; zum Bindemittel wurde die sprichwörtliche brasilianische Gelassenheit.

Resultat sind bei Gilberto Gil bis dato etwa 42 Alben, jedes eine tropikalistische Variante dessen, was hier entweder postmodern nie gelang oder als Crossover zwangsvereinigt wurde. Was gelegentlich nach Kitsch sich anhört, nach verspieltem Jazzrock schlimmstenfalls, sind politische Verortungen: Zumeist außerhalb Brasiliens im Exil produziert, war diese Musik einmal Soundtrack gegen die Diktatur, hat als musikalischer Widerstand durchaus Anteil an den politischen Veränderungen des Subkontinents.

Das Konzept ist fortsetzbar und anschlussfähig an andere Spielweisen subversiver Popgenres. Das gilt zum Beispiel für HipHop genauso wie für House, wobei es keine Rolle spielt, ob die Musik aus den Favelas kommt oder in London als „Brazilectro“ produziert wird. Es ist eine Haltung, eine negative Assimilation, eine Art Kulturimperialismus von unten, umgekehrter Kolonialismus. Kaum verwundert dann die Nähe zur schwarzen Musik überhaupt, zum Reggae insbesondere: Dessen Ikone Bob Marley hat Gilbert Gil nun sein neuestes Album Gaya N‘Gan Daya gewidmet. In Brasilien längst ein Klassiker, ist die fast schon obligatorische Version von „No Woman No Cry“, die jetzt „Não chore mais“ heißt. Also nicht rumheulen, sondern zuhören und mitsingen. Vom Tropikalismus lernen heißt siegen lernen.

Dienstag, 20 Uhr, Stadtpark

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