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Regisseur des Thriller „Motel Destino“„Wo wäre das Kino ohne den Sex und die Liebe?“

Für Regisseur Karim Aïnouz war sein Spielfilm „Motel Destino“ nach der Bolsonaro-Regierung wie ein Neuanfang. Sex nutzt er als erzählerisches Mittel.

Auf der Flucht in die Absteige: Heraldo (Fábio Assunção) und eine Sex­arbeiterin in „Motel Destino“ Foto: Piffl
Interview von Patrick Heidmann

Selbst von seiner Wahlheimat Berlin aus gehört Karim Aïnouz zu den wichtigsten Stimmen des modernen brasilianischen Kinos. Nachdem der Regisseur, der 1966 als Sohn einer Brasilianerin und eines Algeriers geboren wurde, zuletzt 2023 das britische Historiendrama „Firebrand“ mit Jude Law und Alicia Vikander inszenierte (als VoD verfügbar), kehrt er mit seinem neuen Film nach Hause zurück.

Der Film

„Motel Destino“. Regie: Karim Aïnouz. Mit Fábio Assunção, Nataly Rocha u. a. Brasilien/Frankreich/Deutschland 2024, 115 Min.

taz: Herr Aïnouz, „Motel Destino“, die Geschichte eines jungen Mannes, der in einem abgelegenen Stundenhotel an der nördlichen Küste Brasiliens bei dessen Betreiber und seiner Frau unterkommt, ist nach „Mariner of the Mountains“ und „Firebrand“ Ihr dritter Film in vier Jahren. Im vergangenen Frühjahr zeigten Sie obendrein in der Ausstellung „Blast!“ künstlerische Arbeiten in der DAAD-Galerie in Berlin-Kreuzberg. Gibt es einen Grund dafür, dass Sie dieser Tage so produktiv sind wie lange nicht?

Karim Aïnouz: Letztlich ist Filmemachen immer eine Frage der richtigen Zeit und des richtigen Ortes. Eigentlich wollte ich „Motel Destino“ schon viel früher drehen. Das Drehbuch schrieb ich 2016, und ein Jahr später stand auch bereits ein Großteil der Finanzierung. Mein Plan war damals, die Region, in der ich aufgewachsen bin, auf die Leinwand zu holen, den Nordosten Brasiliens. Und ich wollte einen Film drehen, der im Sonnenschein und in der Hitze spielt, voller Sex und Jugend, der etwas über Grenzüberschreitungen erzählt. Doch dann kam in Brasilien bekanntermaßen ein Faschist an die Macht.

taz: Sie meinen Jair Bolsonaro, der 2018 zum Präsidenten gewählt wurde.

Aïnouz: Ganz genau. Mit ihm änderte sich die gesamte Kulturlandschaft in Brasilien, die Filmförderung wurde gestoppt, längst geschlossene Verträge wurden aufgelöst. Damit war auch mein Film erst einmal gestorben. Ich wollte mit dieser Regierung nicht das Geringste zu tun haben, deswegen schien es mit undenkbar, weiterhin in Brasilien zu drehen. Also konzentrierte ich mich auf „Firebrand“ und andere internationale Projekte. Doch als ich den Film schließlich 2023 in Cannes vorstellte, war die Situation zu Hause plötzlich eine andere.

taz: Dass Bolsonaro 2022 die Wahl verlor und der linksorientierte Lula da Silva zurück an die Macht kam, änderte sofort auch die Situation in der Kunst?

Aïnouz: Es flossen tatsächlich sehr schnell wieder Gelder für Filme und andere Kulturprojekte. Mit einem Mal schien „Motel Destino“ wieder umsetzbar zu sein. Und ich spürte nach all den politisch dunklen Jahren eine enorme Sehnsucht, wieder mal in meiner Heimat zu arbeiten. Also flog ich direkt von Cannes nach Brasilien und begann damit, in Windeseile den Film auf die Beine zu stellen. Ich war lange nicht so aufgeregt bei der Arbeit wie bei „Motel Destino“.

taz: Warum das?

Aïnouz: Irgendwie fühlte sich das plötzlich wieder an, als würde ich zum ersten Mal einen Film drehen. Das war wie ein Neuanfang, für Brasilien und für mich. Außerdem gab mir „Motel Destino“ die Chance, mich mit Dingen zu beschäftigen, die mich schon länger reizten. Ich wollte mich von der Rea­lität lösen und mit Fantasy-Elementen, Träumen und dem Unwirklichen spielen. Schon in meinem Dokumentarfilm „Mariners of the Mountain“ ging es um Träume und Erinnerungen, und ich versuchte, dafür Bilder zu finden. Damit wollte ich unbedingt weiter experimentieren.

taz: Ein wichtiger Bestandteil der Geschichte von „Motel Destino“ ist Sex. Das ist dieser Tage fast eine Seltenheit, wo sich Erotik und Lust immer mehr aus dem Kino zu verabschieden scheinen und etwa in Hollywood 40 Prozent weniger Sexszenen gedreht werden als noch vor 20 Jahren. Aber vermutlich ging es Ihnen nicht darum, diesbezüglich bewusst ein Statement zu setzen, oder?

Aïnouz: Doch, bis zu einem gewissen Grad war das durchaus meine Absicht. Natürlich war mein Wunsch, einen sinnlichen und erotischen Film zu drehen, in erster Linie eine Reaktion auf das Ende dieses autoritären Regimes in Brasilien. Aber ich bin auch wirklich frappiert, wie viele Berührungsängste es heutzutage in Sachen Sexszenen gibt, und zwar sowohl bei meinen Kolleginnen und Kollegen als auch beim Publikum. Wann hat diese Entwicklung begonnen? Und warum? Denn das Begehren ist doch eigentlich die Grundlage des Filmemachens. Wo wäre das Kino ohne den Sex und die Liebe? Außerdem ist Sex doch etwas ganz Alltägliches. Er gehört zum Leben dazu, wie die Dusche am Morgen.

taz: Na ja, vermutlich hat nicht jeder Mensch derart regelmäßig Sex …

Aïnouz: Stimmt. Aber auch nicht jeder Mensch isst morgens vor der Arbeit Frühstück – und trotzdem sehen wir das gefühlt in jedem Film. Was ich nur sagen will: Für mich ist Sex eine Selbstverständlichkeit und hat nichts mit Schuld oder Scham zu tun, sondern mit Spaß. Ich bin ein sehr sexpositiver Mensch.

Bild: Foto: Bob Wolfenson
Im Interview: Karim Aïnouz​

Geboren 1966 in Fortaleza im Nordosten Brasiliens. Er studierte Architektur in Brasília und Filmwissenschaft in New York. Seit 2012 lebt er in Berlin. Sein Regiedebüt „Madame Satã“ lief 2002 in Cannes. Mit „Praia do Futuro“ war er 2014 im Wett­bewerb der Berlinale vertreten. „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ gewann 2019 in Cannes in der Reihe „Un Certain Regard“ den Preis für den besten Film.

taz: Ist es für Sie bei einem solchen Dreh denn inzwischen auch selbstverständlich, mit ei­ne*r In­ti­mi­täts­ko­or­di­na­to­r*in zusammenzuarbeiten?

Aïnouz: Anfangs war ich diesbezüglich skeptisch, weil mir der Gedanke nicht behagte, dass es zwischen meinen Schau­spie­le­r*in­nen und mir als Regisseur noch eine Instanz gibt. Doch dann habe ich bei „Firebrand“ in dieser Hinsicht gute Erfahrungen gemacht. Bei „Motel Destino“ war die Zusammenarbeit mit meiner Intimitätskoordinatorin Roberta Serrado nun sogar richtig bereichernd. Sie sorgte nicht nur dafür, dass meine Schau­spie­le­r*in­nen sich wohl und sicher fühlen, sondern wurde mir eine echte Partnerin, wenn es darum ging, die Sexszenen zu choreografieren und erzählerisch das meiste aus ihnen herauszuholen.

taz: Sind Sexszenen schwieriger zu drehen als andere?

Aïnouz: Das nicht. Eigentlich mache ich da gar keinen Unterschied. Eine Sexszene ist für mich eine Szene wie jede andere. Denn sie erfüllt in meinen Filmen auch den gleichen Zweck wie jede andere Szene: Sie erzählt uns etwas über die Figuren und ihr Verhältnis zueinander. Es geht ja nicht bloß um den Sex. Wenn ich Menschen beim Vögeln zugucken will, kann ich ins Internet gehen und irgendeinen Porno anklicken. In einem Spielfilm ist Sex ein narratives Werkzeug. Und zwar ein ausgesprochen wirkungsvolles. Denn wie könnte ich effektiver etwas über die Zu- oder auch Abneigung zweier Personen zueinander erzählen als über das intime Miteinander ihrer Körper?

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Trailer „Motel Destino“

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taz: Obwohl Sie nach wie vor Brasilien als Ihr Zuhause bezeichnen, leben Sie seit langen Jahren in Berlin. Haben Sie nie darüber nachgedacht, auch mal in Deutschland zu drehen?

Aïnouz: Es ist nicht so, dass ich noch nie in Deutschland gearbeitet hätte. Teile von „Futuro Beach“ habe ich in Berlin gedreht und natürlich auch den Dokumentarfilm „Zentralflughafen THF“. Aber ich bin vermutlich bis heute nicht komplett mit der deutschen Seele, der deutschen Kultur verbunden. Was natürlich auch daran liegt, dass Berlin sehr viel internationaler ist als Deutschland allgemein. Was ich dort, in meiner sehr durchmischten Nachbarschaft in Kreuzberg erlebe, ist eher kosmopolitisch als typisch deutsch.

taz: Warum leben Sie denn selbst in Zeiten einer abermaligen Lula-Präsidentschaft lieber hier als in Brasilien?

Aïnouz: Ich war immer schon unterwegs und irgendwie auf der Flucht, vermutlich weil ich mich in Brasilien nie zu 100 Prozent zugehörig gefühlt habe. Vielleicht wegen meines Namens und meiner algerischen Wurzeln. Oder wegen meiner Homosexualität. Berlin war dann der erste Ort auf der Welt, wo ich gespürt habe: Hier gehöre ich hin. Die Stadt ist meine liebste überhaupt; ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, jemals wegzuziehen. Das Berlin, das ich erlebe, ist so, wie ich mir immer die Zukunft vorgestellt habe, nur im Hier und Jetzt. Eines Tages will ich wirklich auch mal einen kompletten Spielfilm dort oder überhaupt in Deutschland drehen. Bis dahin ist die Fotografie für mich die Brücke zwischen meiner Arbeit und meinem Zuhause. Deswegen war es mir auch so wichtig, im Frühjahr 2024 endlich mal meine Fotos in einer Ausstellung zu zeigen.

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