Brasilianische Dragqueen Pabllo Vittar: Täglich Löwen töten
Die Sängerin wird immer berühmter, während ihr Land unter Präsident Bolsonaro immer weiter nach rechts driftet. Über einen schwierigen Kampf.
Es gibt Radiosender in Brasilien, die Pabllo Vittars Songs nicht mehr spielen. Auch Beleidigungen, Hasskommentare und Desinformationen gehören für die Dragqueen zum Alltag. Die vielleicht amüsanteste Falschnachricht über Vittar besagt, sie habe einen Deal mit der brasilianischen Nationalbank geschlossen und ihr Gesicht werde bald auf Geldscheine gedruckt. Eine andere lautet, die Dragqueen werde angesichts der erstarkenden Rechten bald das Land verlassen. Stimmt nicht, sagt Vittar: Sie hat doch gerade erst richtig angefangen!
Schon seit einigen Jahren sorgt die Dragqueen Pabllo Vittar in Brasilien für Aufruhr, spätestens im letzten Jahr hat auch der Rest der Welt sie entdeckt. Vittar hat mehrere Alben aufgenommen, war die erste für einen Latin Grammy nominierte Dragqueen. Die New York Times bezeichnet sie als ein „Emblem der Genderfluidität“, der Guardian nennt sie ein „Symbol des Widerstands“. Und in der Tat: Es ist wohl kein Zufall, dass mit Vittar eine nichtbinäre Dragqueen ausgerechnet in der Zeit zum Star wird, da in Brasilien reaktionäre Kräfte erstarken. Ganz im Gegenteil.
Vittars Musik lässt sich nicht auf einen Stil festlegen: Auf ihrem neuen, dreisprachigen Album kommen Samba-Elemente genauso vor wie britischer Pop. Die Texte handeln meist von Partys, Liebe, Sex, alles geht, solang man dazu tanzen kann. „Parabéns“ etwa spielt mit der brasilianischen Version von „Zum Geburtstag viel Glück“. „Ich werde deinen Kuchen essen“, singt Vittar, während sie im glitzernden Netzoberteil aus einem Kuchen steigt.
Wegen solcher Texte wird ihr häufig vorgeworfen, nicht aktivistisch genug zu sein. Vittar kann diese Kritik nicht nachvollziehen: „Allein als Drag auf einer Bühne zu sein, ist schon Aktivismus.“ Anders als viele politische Künstler*innen übersetzt sich bei Vittar dieser Aktivismus aber nicht in die Songtexte. Der Grund: Mit ihrer Musik wolle sie allem voran denen Freude bereiten, die unter den gesellschaftlichen Strukturen leiden müssen. Unter dem Rassismus, dem Sexismus und der LGBTQ-Feindlichkeit.
„Er“ oder „sie“? Beides okay
Selbstermächtigung bedeutet letztendlich auch, selbst zu entscheiden, wann man über was sprechen möchte – und wann nicht.
Bei einem Interview bezeichnete sich die Dragqueen einmal als „schwulen Jungen, der Drag macht“, gegenüber der taz nennt sie sich „eine feminine Gay“. Vittar positioniert sich als nichtbinär, spricht fast ausschließlich in der weiblichen Form, dekonstruiert und überzieht Geschlecht.
Sie selbst spricht über sich und andere im generischen Femininum, legt aber wenig Wert darauf, mit welchen Pronomen sie angesprochen wird. Vor einiger Zeit erklärte sie: „Wenn Leute ‚er‘ sagen, finde ich das wunderbar, wenn Leute ‚sie‘ sagen, finde ich das großartig.“ Einzige Ausnahme: Wenn sie geschminkt ist, dann wünscht sie sich das „sie“.
Aufgewachsen ist Vittar mit ihrer Mutter und ihren zwei Schwestern in der nordbrasilianischen Provinz, ihren leiblichen Vater kennt sie nicht. Über die Schulzeit spricht die Dragqueen ungern – schmerzhafte Erinnerungen. Weil sie zu Hause umso herzlicher empfangen wurde, sagt Vittar, sie sei privilegiert. Als sie ihrer Mutter von ihrer Homosexualität erzählte, antwortete diese gelassen, das wisse sie doch schon längst.
Als Jugendliche beschließt Vittar, Sängerin zu werden. Seit sie klein ist, singt sie, lädt Videos auf YouTube hoch, später bewirbt sie sich bei „Big Brother“ und „The Voice“, zieht mit 16 in den brasilianischen Südosten bei São Paulo, um durchzustarten – Hauptsache, ganz groß rauskommen, das wollte sie damals schon.
Stattdessen arbeitet sie in Fast-Food-Ketten, einem Friseursalon und einem Callcenter. Irgendwann muss sie zurück zu ihrer Mutter, die mittlerweile ebenfalls im Südosten Brasiliens wohnt. Erst einige Jahre später, 2016, gelingt der Durchbruch.
Über 350 Millionen Aufrufe hat eines von Vittars Musikvideos mittlerweile, 9,9 Millionen folgen ihr auf Instagram. Gemessen an den Followern in sozialen Netzwerken ist Pabllo Vittar die reichweitenstärkste Dragqueen der Welt – auch das ist Brasilien im Jahr 2020.
Herzlich und gut gelaunt wirkt sie in den sozialen Netzwerken, wenn sie etwa ungeschminkt ihre Perücke vor einem Auftritt im Waschbecken eines Hotelbadezimmers wäscht. Vittars Geburtsname ist übrigens Phabullo Rodrigues da Silva. Gefragt, woher der ungewöhnliche Vorname Phabullo stamme, spaßte sie während einer Talkshow: vom englischen Adjektiv „fabulous“.
Vergangenes Jahr war Vittar in Sevilla bei den European Music Awards, in Los Angeles, um als Jurorin bei Queen of Drags dabei zu sein. Sie war in Großbritannien, Mexiko, Portugal, bei den Prides in New York und Toronto, in zahlreichen brasilianischen Städten sowieso. Und auch 2020 wird sie wieder in Kalifornien bei Coachella auftreten, einem der größten Musikfestivals der Welt.
Subkultur wird Mainstream
Vittar hat weltweit Fans, oder wie die Queen sie liebevoll nennt: Vittarlovers. Wenn sie heute auf die Bühne tritt, kreischt also längst nicht mehr nur die queere Szene. Dass die Dragqueen Subkultur damit zum Mainstream macht, kann man schade finden. Aber Vittar will das so. Und ihretwegen erfahren viele, was Drag ist. Dass es Drag überhaupt gibt.
Um zu verstehen, wie viel das bedeutet, genügt ein kurzer Blick nach Brasilien: Allein im Jahr 2018 wurden in dem Land 320 Menschen aus der LGBTQ-Gemeinde ermordet. Seit einem Jahr regiert der rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro, der seinen Wahlerfolg auch auf Tiraden auf Kosten der queeren Bevölkerung aufgebaut hat.
Wird Vittar interviewt, geht es dementsprechend häufig um Bolsonaro und Homophobie, um die Gewalt, die sie erfahren hat und erfährt. Oder darum, was Drag überhaupt ist, wieso sie einen vermeintlich männlich klingenden Vornamen gewählt hat oder ob sie trans ist. Am Umgang mit Vittar lässt sich auch ablesen, wie wenig Wissen über queeres Leben in der breiten brasilianischen Gesellschaft verankert ist.
Die Dragqueen nimmt das gelassen: „Ich hoffe, dass manche dieser Fragen bald nicht mehr nötig sein werden“, sagt sie, „aber es ist völlig natürlich, dass sie aufkommen, schließlich waren wir nicht immer in dieser exponierten Position.“
Der Pabllo-Vittar-Effekt
Wie wichtig das ist, zeigt auch Vittars eigene Geschichte. Ursprünglich wollte sie keine Dragqueen sein. Erst als sie durch die US-Sendung „RuPaul’s Drag Race“ verstand, wie vielfältig Drag sein kann, fand sie sich darin wieder. So wie RuPaul für Vittar ein Vorbild war, ist sie nun selbst ein Vorbild.
Das brasilianische Medienhaus Globo spricht vom Pabllo-Vittar-Effekt: Zahlreiche brasilianische Künstler*innen aus der Dragszene wurden in letzter Zeit bekannt, nachdem Vittar Sichtbarkeit erlangt hatte. Zu Globo sagt eine der Queens: „Wenn Körper wie unsere plötzlich auf Werbetafeln eines 50 Meter hohen Gebäudes gezeigt werden, legitimiert das unser Dasein.“
Was bedeutet es, das bekannteste Gesicht aus queeren Kreisen zu sein in einem Land, in dem so viele Menschen aus diesen Kreisen getötet werden wie in keinem anderen? Es sei, wie jeden Tag einen Löwen zu töten, antwortet Vittar dann immer.
Zumal sie ihre Haltung nicht versteckt: Vittar spricht über den Genozid an der Schwarzen Bevölkerung, Femizide, LGBTQ-Rechte. Als sich während des letzten Wahlkampfs herausstellte, dass einer ihrer Sponsoren auch die Kampagne Bolsonaros öffentlich unterstützt hatte, kündigte sie Werbeverträge auf und distanzierte sich über Instagram vor ihren Millionen Fans von besagten Firmen. Dem US-Magazin Time sagte die Dragqueen, sie schäme sich gelegentlich, Brasilianerin zu sein. Wegen Bolsonaro, den Vittar übrigens dezidiert einen rassistischen, homophoben Präsidenten nennt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour