Brandenburgs Stasi-Beauftragte Poppe: Hartnäckig, neugierig, entschieden
Brandenburg war das einzige neue Bundesland, das auf einen Beauftragten für die Stasi-Vergangenheit verzichtete. Jetzt gibt es eine: die Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe.
Wäre Ulrike Poppe nicht so neugierig, dann hätte sie sich das Ganze vielleicht erspart. Immerhin 18 Jahre arbeitet sie schon als Studienleiterin an der Evangelischen Akademie zu Berlin. Sie beschäftigte sich mit Zeitgeschichte, sie konnte ihre Arbeit frei einteilen, sie hatte eine komfortable Arbeitsstelle für eigenwillige Menschen, die niemand ohne Not aufgibt. Sie sagt, es ist ihr "ausgesprochen schwergefallen", sich "von der Akademie zu verabschieden". Zumal für ein Bundesland, das manche die kleine DDR nennen.
Jetzt sitzt sie auf ihrem gelben Mikrofasersessel, gießt Tee nach und nimmt sich ein Stück Zartbitterschokolade. Ulrike Poppe wird gerne unterschätzt, denn Marktschreierei oder Pose gehören nicht zu ihrem Verhaltensrepertoire. Vielmehr ruht sie in sich, mit freundlichen Augen, schmalen Lachfalten und erfrischender Fröhlichkeit. Trotzdem muss in dieser so gemütlich wirkenden Frau etwas stecken, das unerschütterbar ist. Denn ohne Menschen wie Ulrike Poppe würde es die SED-Diktatur noch geben.
1952: Geboren am 26. Januar als Ulrike Wick in Rostock, in Hohen Neuendorf bei Berlin aufgewachsen, Studium der Kunsterziehung und Geschichte, das sie 1973 abbrach. Verheiratet mit dem Physiker Gerd Poppe. Befreundet mit Robert Havemann. Ab den 1970er-Jahren veranstaltet das Ehepaar Poppe Dichterlesungen in Prenzlauer Berg und gibt eine verbotene Zeitschrift heraus. Zu ihren bekannten IMs zählen Sascha Anderson und Ibrahim Böhme.
1980: Mitbegründerin des ersten Kinderladens in der DDR. 1982 Mitbegründerin des Netzwerkes "Frauen für den Frieden". 1985 Mitbegründerin der "Initiative Frieden und Menschenrechte". Erstunterzeichnerin und Sprecherin der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt". Unterschrieb 1992 Protestnote zur Kritik an Manfred Stolpe.
1991: In der Nachwende Studienleiterin an der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg. Mitglied im Beirat der "Birthler-Behörde", der Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen und der Robert-Havermann Gesellschaft. Zahlreiche Auszeichnungen. Verheiratet mit dem Politologen Claus Offe
Jetzt wagt sie noch einmal etwas Neues und will aufarbeiten, was 20 Jahre liegen blieb. In einem Land, in "dem du ein dickes Fell brauchst", wo "dir der Gegenwind" spitz ins Gesicht bläst, wie ihre Freunde sagen. In Brandenburg. Dem einzigen ostdeutschen Bundesland, das bis heute auf eine Landesbeauftragte für Stasi-Unterlagen verzichtete. Jetzt wird Ulrike Poppe erste "Beauftragte zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur".
Es wird Zeit, denn das Donnergrollen ist noch zu hören aus dem "Kreml", dem Brandenburger Parlament, das so heißt, weil dort auch die SED-Bezirksregierung residierte. Die politische Reibung über der neugewählten rot-roten Regierung unter Matthias Platzeck (SPD) entlädt sich, als neben den ohnehin bekannten ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit immer mehr Mandatsträger als IMs offenbar werden. Umso ärgerlicher, als Platzeck kurz zuvor in einem Essay für "Versöhnung" mit den Funktionären der Diktatur geworben hatte: "Zwei Jahrzehnte nach dem revolutionären Umbruch müssen wir endlich anfangen, es mit dem überfälligen Prozess der Versöhnung ernst zu meinen", schrieb er. Jetzt weiß Platzeck: Es sind mindestens 6 IMs. Von 26 Abgeordneten der Linksfraktion.
In dieser Gemengelage fängt Ulrike Poppe an. Unter märkischem Sand liegt die SED-Vergangenheit - seit 20 Jahren konserviert. Mindestens 2.942 ehemalige Stasi-Mitarbeiter arbeiten noch in den Landesverwaltungen. Nur 10 Prozent der Bevölkerung in dieser ländlichen Gegend interessieren sich für die Vergangenheit. Ulrike Poppe sagt: "Die Abwehr ist in Brandenburg größer als in anderen Bundesländern; ob ich das aushalten kann, ist noch die Frage." Tatsächlich hat sie in ihrem Leben ganz andere Dinge riskiert.
Das weiß auch Jochen Goertz. Er kommt ebenfalls aus der Bürgerrechtsbewegung. Ist Mitbegründer der Solidarischen Kirche und seit 1989 Pfarrer der Bartholomäusgemeinde in Berlin. Er sitzt zwischen vergilbten Papierbergen. Akten und tausende Bücher hat er in den Regalen bis unter die Decke verstaut. "Sie ist keine Theoretikerin", sagt er, "was aber die Einschätzung politischer Situationen betrifft, ist sie sehr fundiert in ihrem Urteil. Authentisch und kommunikativ, nicht ideologisch verbohrt." Sie habe sich unterschieden von den Profilierungssüchtigen und den Lautsprechern der Oppositionsszene vom Prenzlauer Berg. "Sie wird sich zu behaupten wissen", meint der Pfarrer, auch gegen "den Stolpe-Effekt".
Am 11. September 1994 bescheren die Brandenburger Manfred Stolpe (SPD) mit 54,1 Prozent die absolute Mehrheit; unbeeindruckt davon, dass die Regierung wenige Monate zuvor wegen Stolpes Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit zerbrochen war. Die heutige Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Marianne Birthler, hielt es schon 1992 nicht mehr aus und trat nach einem Stolpe-Untersuchungsbericht als Bildungsministerin zurück. Ihr war der Spagat zu schmerzhaft: Stolpe als Regierungschef zu akzeptieren und gleichzeitig Stasi-belastete Lehrer rausschmeißen zu müssen.
Brandenburg ist Stolpe-Land, 12 Jahre prägt er die Region. Am 27. Juni 2002 übergibt der "Gründervater Brandenburgs" (O-Ton Platzeck) an seinen Ziehsohn. Doch die Vergangenheit packt auch Platzeck nicht an. Ulrike Poppe ist vielleicht deswegen gut für Brandenburg, weil sie schon immer anders war.
Marianne Birthler beglückwünscht sie für die Entscheidung. Poppe, sagt sie, "ist eine Frau, die zu dem steht, was sie bewegt. Dabei ist sie hartnäckig, manchmal auch unsicher, vor allem aber begeisterungsfähig." Die beiden kennen sich von der "Initiative Frieden und Menschenrechte", Birthlers Tochter wohnt im gleichen Haus wie Ulrike Poppe. Die kann aus ihrem Fenster auf die schicken Fassaden des Ostberliner Kollwitzplatzes sehen. In Prenzlauer Berg. Wo jetzt die hippe Highsociety logiert, war früher der Kiez der "feindlich negativen Kräfte". Seit fast 40 Jahren lebt sie hier.
Mitte der 80er-Jahre, unweit vom Kollwitzplatz entfernt, wohnt sie mit dem Physiker Gerd Poppe in einem maroden Mietshaus in der Rykestraße. Einmal entdecken sie ein winziges Mikrofon unter dem Gips ihrer Wohnzimmerdecke. Die Wanze ist so empfindlich, dass sie selbst die Sauggeräusche der Kinder beim Nuckeln an der Flasche aufzeichnet. Dennoch: Ulrike Poppe spricht immer offen über ihre Aktionen und Ansichten, auch mit den Arbeitskollegen. "Wir wollten andere ermutigen, nicht mehr mit gespaltener Zunge zu reden, zu den eigenen Überzeugungen zu stehen."
Wenn Ulrike Poppe unter Hausarrest steht, klingeln die grauen Herren morgens schon um 6 Uhr an der Tür, erst um 22 Uhr steigen sie wieder in ihre Autos. "Die Kinder dachten, es wäre normal, dass die Stasi ab und zu vorbeikommt oder dass dieser und jener verhaftet wird." Sie zerstechen ihr die Fahrradreifen. "Wenn ich erzählt hätte: das war die Stasi, dann hätten andere gesagt, die hat doch eine Macke." Einer Frau klaut die Stasi immer wieder die Bettwäsche in einer bestimmten Farbe aus dem Schrank. 1983 schließlich verschleppt die Stasi Ulrike Poppe und Bärbel Bohley nach Hohenschönhausen, Untersuchungshaft, die Anklage lautet auf Landesverrat, dafür drohen bis zu 10 Jahre Haft. Nach 6 Wochen Ungewissheit ist sie frei. Wahrhaftig. Ihr Chef, der Generaldirektor im Museum für deutsche Geschichte, sagt zu ihr: Solange er an diesem Tisch sitze, komme sie mit ihren Füßen nicht mehr auf den Boden. "Von diesem Zeitpunkt an konnte ich nichts mehr verlieren." Sie ist nicht mehr mit Beruf und Ausbildung erpressbar. "Da habe ich mich frei gefühlt."
Im Januar 1992 stellt ihr die Gauck-Behörde dann 40 Aktenordner hin, Tausende Seiten über ihr Privatleben, Maßnahmenpläne: "Zur Verschärfung der Ehekrise und Unterstützung der Trennungsabsichten der POPPE, Ulrike wird die Kontaktperson Harald an die POPPE mit dem Ziel herangeschleust, zwischen beiden ein Intimverhältnis aufzubauen." Im Laufe der Jahre kommt immer mehr hinzu. Sie hat bis heute nicht alles gelesen. Akten, in denen Sprache ruiniert wird, die von der Angst der Diktatur vor dieser sanften Frau zeugen. Doch sie können ihr nichts anhaben. Sie schaffen es nicht einmal, Verbitterung bei ihr hervorzurufen.
Sie steckt sich noch ein Stück Schokolade in den Mund und sagt lächelnd: "Es war nicht alles dunkel. Es war auch eine spannende Zeit und wir hatten viel Spaß." Manchmal haben sie die Stasi in einem der Hinterhöfe einfach genarrt.
"Haltet euch aus der Politik heraus, behaltet eure Meinung für euch, ihr könnt sowieso nichts ändern. Meine Mutter sagte: Mach dich nicht zur Märtyrerin." Kinder tun selten, was ihre Eltern wollen. Ulrike Poppe ist Mitbegründerin der "Initiative Frieden und Menschenrechte", der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt". Daraus entsteht später Bündnis 90. Ulrike und Gerd Poppe sitzen 1989/1990 mit am Runden Tisch.
"Ich bin eher der vermittelnde Typ", sagt sie. Sie ist in der DDR eine der wenigen Oppositionellen, die sich nicht ganz abwendet, die weiter in einem Staatsbetrieb arbeitet, dem Museum für deutsche Geschichte. Weil sie neugierig ist, sucht sie auch schon damals das Gespräch mit Funktionären. "Darin habe ich mich auch von meinen Freunden unterschieden, die gesagt haben: Mit denen reden wir nicht. Ich habe immer mit denen geredet."
Auch nach der Wende spricht sie mit Informellen Mitarbeitern und auch mit Hauptamtlichen, "weil mich interessiert hat, was wollten die, was haben die erwartet, was steckt für ein Denken dahinter, wenn ein Funktionär seine Tätigkeit rechtfertigt."
Woher kommt diese Milde? Sie hat verinnerlicht, dass Menschen Fehler begehen, dass sie manchmal auch schwach, dumm und unerfahren sind. Als sie Anfang zwanzig ist, will die Staatssicherheit Ulrike Poppe anwerben. Ein westlicher Geheimdienst würde Informationen über sie sammeln. Zu ihrem eigenem und dem Schutz ihrer Freunde solle sie mitmachen. "Obwohl ich wusste: man darf der Stasi nie etwas glauben und man darf nie etwas unterschreiben, war ich mir nicht sicher, denn die waren sehr nett und geschickt. Die haben auch alles belegt. Aus dieser Erfahrung weiß ich, dass man sehr leicht in so etwas reinschlittern kann."
Pfarrer Jochen Goertz hatte gesagt, Ulrike Poppe sei "entschieden im Handeln und Reden, offen, andere Argumente zu hören, und fähig, Grenzen zu setzen". Sie sagt, im Gegensatz zu Matthias Platzeck glaube sie nicht, "dass man Versöhnung dekretieren kann. Aber man kann Räume schaffen, in denen sich diejenigen begegnen, die bisher nur schweigend feindlich gegenüberstehen. Ich will in meinem Amt dazu beitragen, dass ein Klima geschaffen wird, das einen wahrhaftigen Umgang mit der eigenen Vergangenheit, auch mit dem eigenen Versagen möglich macht."
"Ob wir die richtigen Lehren aus der Vergangenheit ziehen, erweist sich weniger in ritualisierter Vergangenheitsbewältigung als in unserer Bereitschaft zu tätigem Neubeginn", schreibt Platzeck in seiner Versöhnungs-Schrift. Mit Poppe besteht die Chance dafür.
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