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Boykottaufrufe vor ParlamentswahlenWahl und Nichtwahl in Irak

Mit Massenprotesten hat Iraks Protestbewegung erfolgreich eine Neuwahl erzwungen. Doch nun rufen viele progressive Kräfte zum Wahlboykott auf.

Irakisches Sicherheitspersonal darf früher an die Wahlurne: Am Sonntag wählt der Rest des Landes Foto: Thaier al-Sudani/reuters

Berlin taz | Irak wählt ein neues Parlament. Positiv gewertet ist allein der Wahltermin am Sonntag schon ein kleiner Erfolg der Protestbewegung, die seit 2019 einen demokratischen Wandel im Land fordert. Massendemonstrationen hatten die Regierung in Bagdad zu Fall gebracht, und der neue Regierungschef Mustafa Kadhimi versprach gleich nach seiner Vereidigung im vergangenen Jahr eine Neuwahl.

Der vorgezogene Urnengang ist der fünfte seit dem Sturz Saddam Husseins durch die USA, doch von Demokratie ist das Land fast zwanzig Jahre nach Ende der Diktatur weit entfernt. Ganz oben auf der Mängelliste der Protestbewegung stehen neben Arbeitslosigkeit und Korruption die Gefahr für Leib und Leben von Ak­ti­vis­t*in­nen und Medienschaffenden sowie der Konfessionalismus im Land. Denn das Saddam-Regime wurde ersetzt durch ein korruptes und intransparentes etho-konfessionelles Mehrparteiensystem.

„Große Teile der irakischen Gesellschaft sind vom System desillusioniert und werden die Wahl boykottieren“, prognostiziert die Analystin Nussaibah Younis. „Auf die Wahl werden wahrscheinlich lange Verhandlungen über die Regierungsbildung folgen, nach denen zu erwarten ist, dass sich die etablierten politischen Parteien auf eine Machtaufteilung einigen werden, ähnlich der, die Irak derzeit hat.“ Möglich auch, dass Kadhimi Regierungschef bleibt.

Dabei wollten die De­mo­kra­tie­ak­ti­vis­t*in­nen genau dieses Weiter-So verhindern. Zwar sind aus der Bewegung, in deren Reihen mehr als 600 Tote zu verzeichnen sind, einige kleine Parteien und unabhängige Kan­di­da­t*in­nen hervorgegangen. Doch die Sicherheitslage – besonders für politisch Aktive – ist weiter katastrophal, weshalb viele progressive Kräfte den Wahlboykott unterstützen. Zahlreiche Ak­ti­vis­t*in­nen wurden von Sicherheitskräften oder Milizionären getötet; vor allem der Mord an Dschawad al-Wasni, einem der Organisatoren der Proteste, schockierte viele.

Umstrittene Boykottaufrufe

„Vorgezogene Wahlen waren zwar eine Forderung der Demonstrierenden, die am Oktoberaufstand teilgenommen haben“, schreibt Jassim Al-Helfi, Mitglied der Kommunistischen Partei, die sich ebenfalls dem Boykott angeschlossen hat „aber sie haben die Forderung an eine Reihe von Bedingungen geknüpft.“

Aktuell herrsche weder Chancengleichhheit noch Meinungsfreiheit. Ein Boykott sei die richtige Antwort auf die Versuche der Herrschenden, „ein unfaires Wahlumfeld aufrechtzuerhalten, das Betrug in all seinen Formen zulässt, den Willen des Volkes missachtet und den Wählern ihr Recht verweigert, ihre Vertreter frei zu wählen.“

„Die gesamte Politik scheint vorrangig auf die politische Repräsentation der Parteien ausgerichtet zu sein und weniger auf das Wohl der Bevölkerung“, kritisiert auch der Cellist und Dirigent Karim Wasfi, der die Massenproteste mit öffentlichen Konzerten unterstützte. Heute herrsche eine „entmutigte Stimmung“ unter den Aktivist*innen, da Teile der Bewegung mit den etablierten Parteien gemeinsame Sache machten, auch wenn andere weiter Druck ausübten.

Streitpunkt Teheran

Am Ende werden wohl die großen, an den ethno-konfessionellen Gemeinschaften der Schiiten, Sunniten und Kurden ausgerichteten Parteien erneut das Rennen machen. Stärkste Kraft dürfte die vom einflussreichen schiitischen Kleriker geführte Saeroon-Allianz werden. Konkurrenz bekommt sie von der Fatah-Koalition, unter deren Schirm sich schiitische Milizen zusammengeschlossen haben, die dem Regime im Nachbarstaat Iran nahestehen.

Der massive Einfluss Teherans ist eine der Hauptkonfliktlinien im Irak. Das iranische Regime hat seine Macht nach 2003 mithilfe von Stellvertretermilizen gezielt ausgebaut. Gruppierungen wie Asaib Ahl al-Haq und Kataib Hisbollah, die unter der Ägide Teherans agieren, konnten ihren Einfluss ausweiten, nachdem sie den „Islamischen Staat“ (IS) militärisch besiegten, der zwischen 2014 und 2017 weite Teile Iraks kontrollierte.

Ein wirklicher Wandel dürfte nach der Wahl vom Sonntag unter einer von den großen Parteien gestellten Regierung kaum ausgehen. „Die nächste Regierung wird wahrscheinlich unfähig oder unwillig sein, die Korruption und die sozioökonomischen Misstände anzugehen“, schreibt die Analystin Younis. Sie rechnet sogar mit weiteren Massenprotesten wie schon 2019.

Musiker Wasfi, der einen Boykott nicht für das richtige Mittel hält, mahnt derweil, die Bewegung dürfe ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren: „Protest sollte den Weg gestalten und den Wandel unterstützen statt selbst zum Weg zu werden“, sagt er gegenüber der taz. „Wir sollten uns darum kümmern, was durch Protest verändert werden kann, anstatt nur zu protestieren.“

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