Botanische Gärten: Panik in der Botanik
Botanische Gärten sind Meisterwerke – erfahren aber Vernachlässigung. Sie werden noch gebraucht, nicht nur aus Tradition.
Ein etwas unwahrscheinlicher deutscher Politiker mit langen Haaren geht langsam durch den Botanischen Garten von Padua. An einer brillantgrünen Fächerpalme hält Anton Hofreiter an. Chamaerops humilis, Zwergpalme, sie steht hier schon seit langer Zeit.
Johann Wolfgang von Goethe hat bereits vor mehr als 200 Jahren vor diesem Baumexemplar gestanden und es bewundert. Schon damals war die Palme, im 16. Jahrhundert gepflanzt, eine kleine grüne Ewigkeit alt – was Goethe seinerzeit veranlasste, über einen in der Vorzeit gemeinsamen Ursprung aller Pflanzenarten zu spekulieren: die Urpflanze.
Hofreiter, der Fraktionsvorsitzende der Grünen auf Italienreise, ist Botaniker. Irgendwie kann man ihn sich gut vorstellen an diesem Ort, von dem er erzählt, im 1545 gegründeten Botanischen Garten der Universität Padua, Europas ältestem seiner Art. Als Tropenbotaniker schleppte sich Hofreiter einst mit gebrochenem Wadenbein durch den peruanischen Regenwald; er promovierte über die Systematik von Inka-Liliengewächsen. Ihn umweht ein Hauch Humboldt-Romantik.
Doch Hofreiter, anders als Alexander von Humboldts Zeitgenosse Goethe, sinniert beim Anblick von Chamaerops humilis, der Zwergpalme, nicht über den Ursprung und die Ewigkeit, sondern über die unmittelbare Zukunft: Wird es in 20 oder 30 Jahren solche Palmen in solchen alten europäischen Gewächshäusern noch geben?
Eine gefährdete Art
Es ist Frühjahr 2016, und die Frage ist: Ist die Ewigkeit bald vorbei?
Europas botanische Gärten sind eine gefährdete Art, was für engagierte Botaniker wie Hofreiter ein Anlass zur Sorge ist. Der 1952 gegründete Botanische Garten der Universität Saarbrücken etwa ist im April dieses Jahres geschlossen worden – wegen plündernder Pflanzendiebe sogar noch einen Monat früher als geplant. Seitdem ist das Saarland das erste Bundesland ohne einen botanischen Garten für die Bevölkerung.
Der Garten in Saarbrücken – einer von knapp 75 deutschen Gärten im Verband Botanischer Gärten – ist vergleichbar der ersten ausgestorbenen Froschart im heutigen Regenwald geworden: ein unheimliches erstes Zeichen einer viel radikaleren Krise, eines Artensterbens.
Längst fragen sich andere Gartendirektoren, sogar Direktoren größerer und besser finanzierter Einrichtungen wie Hamburgs Botanischer Garten mit seinen zwei Standorten, welche Einrichtung als Nächstes schließe. Unter Botanikern wird diskutiert, dass der Saarbrückener nicht der letzte Gartentod gewesen sein wird. In den gartenvernarrten Niederlanden wurden in den vergangenen Jahren mehrere Gärten aufgegeben. Anderswo, von Großbritannien bis Tschechien, werden sie zunehmend vernachlässigt.
Die Liebe des Menschen zu anderen Spezies
Nur die Biophilia, die natürliche Liebe des Menschen zu anderen Spezies, die der Biologe E. O. Wilson beschrieb, hat bisher die meisten deutschen botanischen Gärten immer noch am Leben gehalten, wenn sie gefährdet waren. Drohende Schließungen rufen stets wütende Bürgerproteste hervor. In Berlin, Hamburg und Köln haben Proteste in den letzten Jahren mittelfristig Abschaffungspläne vereiteln können. Nur der Protest von tausenden Saarbrückern hat diesmal nicht ausgereicht.
Anjana Shrivastava wurde in Großbritannien geboren, wo sie die botanischen Gärten des Königreichs kennenlernte. Dann zog sie in die USA, wo die Wildnis im Mittelpunkt steht, und studierte Europäische Geschichte in Harvard.
Helmut Höge wurde 1947 in Bremen geboren, studierte Sozialwissenschaften in Berlin und Bremen, arbeitete danach als landwirtschaftlicher Betriebshelfer und ist seit 1970 journalistisch tätig
Gestresste Städter suchen solche grünen Oasen, wo Kinder zwischen Blumenbeeten das Laufen lernen und Alte unter mächtigen Bäumen auf Bänken sitzen, ohne Lärm und Unterhaltungsprogramm. Ein botanischer Garten ist für den Städter wie die Natur selbst: etwas, das da ist und immer da war.
Also warum sind die Gärten bedroht, wenn doch eigentlich niemand gegen sie ist?
Die Universität Saarbrücken begründete den Abwicklungsbeschluss ihres Botanischen Gartens damit, dass er für Forschung und Lehre nicht mehr gebraucht werde; mit seinem Jahresetat von 500.000 Euro könnten drei Professorenstellen finanziert werden.
„Das Problem der Gärten ist das knappe Budget der Länder und Städte. Und dazu die wissenschaftliche Abkehr von der ‚organismischen Biologie‘ zur profitablen Molekularbiologie“, sagt Anton Hofreiter in seinem Berliner Büro.
Der Unterschied zwischen Hafer und Gerste
Die Abkehr, die Hofreiter meint, ist eine Abkehr vom Feld und eine Hinwendung zum Labor. Die organismische Biologie beschäftigt sich mit der Vielfalt und den Beziehungen der Organismen untereinander sowie unter Umständen mit ihrer Gefährdung durch den Menschen. Wissenschaftler haben heute ein zunehmend peripheres Interesse an lebenden Pflanzen, weil sie diese mehr und mehr auf genetischer und molekularer Ebene untersuchen.
Es gehört zur Bestimmung der botanischen Gärten, die Studenten der Naturwissenschaften mit lebenden Pflanzen vertraut zu machen. Gartendirektoren beklagen, dass viele Studenten nicht einmal mehr den Unterschied zwischen Gerste und Hafer kennen würden. In der organismischen Biologie kann man einen solchen Wissensmangel aufwiegen, doch bald experimentieren die Laborbiologen in Gewächshäusern mit bloß noch einer Art, und das über Jahrzehnte. „In Deutschland ist diese Wende sogar radikaler vollzogen worden als selbst in den USA“, sagt Hofreiter.
Die Entwicklung ist nicht neu. Schon in den Sechzigerjahren beklagte der brillante ukrainisch-US-amerikanische Biologe Theodosius Dobzhansky, obwohl selbst Genetiker, dass seine Kollegen in der organismischen Biologie inzwischen als „Schmetterlingsammler und Vogelbeobachter“ abgetan würden. Der französische Genetiker und Nobelpreisträger François Jacob sagte es so: „Es geht nicht mehr um ‚das Leben‘, heute interessiert sich die Biologie für die Algorithmen des Lebendigen.“
Hinzu kommt heute, dass die botanischen Gärten nun, in Zeiten der ewigen Mittelverknappung, wie Dinosaurier wahrgenommen werden, als Verschlinger üppiger Ressourcen. Zahlreiche Gärtnerstellen sind in den Gärten unbesetzt. Haushaltskürzungen werden von den Trägern, den Universitäten, direkt an sie weitergegeben. Die neoliberale Lösung zielt auf Verschlankung, Verdienstleistung und Selbstausbeutung.
Anton Hofreiter allerdings glaubt, dass die Gärten noch gebraucht werden – und nicht nur um des bloßen Erhalts eines Kulturguts willen. Er verlangt eine radikale Neuerfindung: „Ein botanischer Garten muss eine Arche Noah für den Erhalt der Artenvielfalt sein.“ Wir kommen darauf zurück.
Potenzial zur Arche Noah
Der Berliner Botanische Garten der Freien Universität in Dahlem, eine ehrwürdige Institution mit derzeit noch 22.000 Pflanzenarten, hat das Potenzial zur Arche Noah. Er siedelt seltene Pflanzen aus aller Welt an, vermehrt sie und siedelt sie zum Teil wieder aus.
Da ist die Welwitschia mirabilis, die nur in Namibia wächst. Da ist ein 160 Jahre alter Palmfarn. Da ist ein 25 Meter hoher Bambus. Da sind die feuchtigkeitsliebenden Pflanzen der nordamerikanischen Atlantikküste. Da sind alte Eichen, ein Prachtexemplar neben dem anderen. Da ist das üppige Viktoriagewächshaus mit seiner berühmten brasilianischen Riesenseerose, einst der Stolz des kaiserzeitlichen Berlins.
Über dem Eingang des Gartens an der Königin-Luise-Straße steht ein Satz von Goethe: „Habt Ehrfurcht vor den Pflanzen, denn alles lebt durch sie.“
Man kann hier allerdings auch beobachten, wie eine Neuerfindung des botanischen Gartens der vergangenen Jahre tatsächlich aussieht: weniger nach Arche Noah als nach Veranstaltungskulisse.
Die Gärten als Kulisse
Besucht man eine der sogenannten Tropischen Nächte im Berliner Palmenhaus, sieht man wenig von der von Goethe angemahnten Ehrfurcht – zwischen den Cocktailbars, die alle paar Meter zwischen Pflanzen stehen, ist auch kaum Platz dafür. Die Besucher trinken Caipirinhas und trippeln im Lauf des Abends immer schwankender durch die schmalen Pfade zwischen Gewächsen wie der Seychellen-Palme.
Die Palme ist so schön, dass sie auf praktisch keiner Marketingbroschüre für die Tropischen Nächte fehlt. Sie ist aber nicht nur schön, sondern auch fast ausgestorben, weil ihr Habitus auf den Seychellen, den Inseln im Indischen Ozean, schwindet. Und weil jeder ihrer Samen – es sind die größten der Pflanzenwelt – ungefähr so schwer wie ein Kleinkind ist; und damit zu schwer, um von den Seychellen mittels Wind und Wasser woanders hingetrieben zu werden.
Die Besucher, die nicht recht wahrzunehmen scheinen, dass sich in ihrer Mitte ein Wunder befindet, wippen zu Salsa-Musik, die von leicht bekleideten Sängerinnen geboten wird.
Früher, bei den „Sonnenaufgängen im Regenwald“, die der Botanische Garten organisierte, standen noch die Pflanzen im Mittelpunkt, Kulisse war nur die Soundcollage. Heute, bei den „Tropischen Nächten“, ist es umgekehrt: Die seltenen Bäume fungieren als grüne Tapete.
Die Veranstaltung ist ein Sinnbild für den neuen Umgang mit den Gärten, den wissenschaftlichen wie den politischen.
Ein Fachgärtner im Berliner Botanischen Garten, der nicht namentlich genannt werden will, weil er ohnehin Angst um seinen Job hat, kritisiert, die Wissenschaftler würden sich gar nicht für die Pflanze interessieren, sie wollten nur kurz in sie hineingucken.
Die Steinmetze unserer Zeit
Und mit dem sinkenden Stellenwert der Gärten in den Wissenschaften steigt der Sachzwang, sie anders zu verwerten. Für die tanzenden Abendtouristen wie für nichtorganismisch orientierte Biologen wird die lebende Natur zum Beiwerk für distinktiven Lifestyle und wissenschaftliche Ideologien.
Thomas Borowka ist der Leiter der Gewächshäuser. Er wird zusammen mit den Palmen und dem Palmenhaus als Gesamtpaket für die „Tropische Nacht“ an die veranstaltende Firma mitvermietet. Er zeigt den angeheiterten Besuchern bei der Salsa-Nacht Fotos von Monokulturen wie Soja, die den südamerikanischen Regenwald quadratkilometerweise veröden lassen. Das ist nicht das Lateinamerika von Salsa und Bacardi-Rum.
Borowka, so könnte man es frei interpretieren, zeigt mit den Bildern der Verödung des Regenwalds auch die drohende Verödung der botanischen Gärten.
Ohne Rücksicht auf Verluste
Die hochspezialisierten Gärtner der botanischen Gärten sind die Steinmetze unserer Zeit. Sie reisen durch Europa, um Wasserpflanzen in Breslau kennenzulernen oder Kakteen in Amsterdam, so wie einst die Steinmetze alle gotischen Kirchen auf der Suche nach neuen handwerklichen Fähigkeiten aufsuchten. Wie lange aber wird es in der Atmosphäre des Sparzwangs und der Degradierung der Gärtner zu Dienstleistern diese Bildungsreisen noch geben?
Bereits 2003 entging der Berliner Botanische Garten nur knapp der Schließung. Seine Lage ist seitdem prekär. 2007 wurde eine Betriebsgesellschaft gegründet, die nicht nach Tarif bezahlt, ein 100-prozentiges Tochterunternehmen der Freien Universität – ein Stiefkind. Nun wird gespart; es wird in Gebäude investiert, aber Stellen bleiben unbesetzt, Blumenbeete lässt man verwildern, und es wird über zündende neoliberale Lösungen nachgedacht.
„Die drastischen Kürzungen der Landesmittel werden seit Jahren seitens der Freien Universität ohne Rücksicht auf Verluste an den Botanischen Garten weitergegeben“, kritisieren Gruppen wie „Work Watch“, eine Initiative, die mit der Gewerkschaft Verdi eng zusammenarbeitet; Günter Wallraff ist ihr bekanntester Aktivist. „18 offene Stellen sorgen dafür, dass den Gärtnerinnen und Gärtner die Arbeit buchstäblich über den Kopf wächst.“
Professoren sitzen auf KW-Stellen – „kann weg“
Bei jeder Veranstaltung der „Tropischen Nächte“ gibt es eine Schar linker Schüler und Studenten, Vertreter der „Revolutionär-kommunistischen Jugend“, die gegen den Arbeitgeber Freie Universität agitieren, wegen der schlechten Behandlung einfacher Arbeitnehmer wie Putzfrauen und Wachpersonal, wegen Lohndumpings und Tarifflucht.
Im neu gewählten Studierendenparlament der FU setzten sie als Erstes eine Solidaritätsadresse an die Angestellten des Botanischen Gartens durch. Bei den nächtlichen Events versuchen sie, die Palmenhausbesucher zu agitieren, bevor die im Rausch des Abends womöglich nicht mehr aufnahmefähig sind.
Die Spartendenz zieht sich durch zahlreiche Institutionen in mehreren Städten.
Nicht nur Putzfrauen, Wachpersonal und Techniker sind bedroht, auch die organismische Biologie, die sich mit den Beziehungen der Lebewesen zueinander beschäftigt, wird eingedampft. Ihre Vertreter sitzen oft auf einer KW-Stelle – KW heißt: „kann weg“, sobald ein Stelleninhaber ausscheidet.
An der Universität Potsdam zum Beispiel fiel der ganze feldbiologische Bereich mit der Emeritierung des Zoologen Hans-Dieter Wallschläger weg.
Was den Botanischen Garten in Berlin-Dahlem betrifft, ihm steht ein derzeit mit 14 Millionen Euro veranschlagtes Bauprogramm bevor. Es soll angeblich den Garten für Touristen besser vermarktbar machen. In einem Exposé, das der taz vorliegt, wird die angeblich unterbewertete Anlage als „Dornröschen“ bezeichnet, welches „wir gerne wecken würden“: mit neuen Gebäuden, einer Multimediainstallation, Smart-Technologien wie einem 3-D-Leitsystem und einem elektronischen Kassen- und Zutrittssystem für Besucher. Investitionen in die Gartenarbeit aber sind nicht vorgesehen.
Gärten, ein Freizeitpark?
Manche Gärtner in Berlin gehen davon aus, dass der Botanische Garten mit seinen 22.000 Arten irgendwann nur noch einer mit 16.000 Arten sein und sich langsam zu einer Art Freizeitpark entwickeln wird.
In anderen, sogar in reicheren Städten, gibt es vergleichbare Entwicklungen.
In Hamburg verhinderte ein Bürgerprotest zwar die Schließung des Gartens. Beschnitten wurde er trotzdem. Als er 2012 in Loki-Schmidt-Garten umbenannt wurde, gab der Referent des Naturschutzbunds für Umweltpolitik, Malte Siegert, der taz ein Interview. Die Artenvielfalt „wird im Botanischen Garten aus Finanznot seit Jahren stetig reduziert“, sagte er: die Naturschutzabteilung des Gartens, in der im Freiland geschützte Arten gezeigt wurden – geschlossen. Die sogenannte Kleine Salzwiese – zugeschüttet. Der Heidegarten – eingestellt. „Wir befürchten, dass das nicht alles ist“, sagte Siegert. „Wenn die Einsparungen weitergehen, wird der Botanische Garten irgendwann ein Park mit viel Rasen, aber wenig Pflanzenvielfalt – einfach weil dessen Pflege weniger personalintensiv und somit kostengünstiger ist.“
An vielen Orten also ganz ähnliche Tendenzen: ein Umbau zulasten des Wesentlichen seit den Anfängen der botanischen Gärten in Padua – der intensiven Beschäftigung mit lebendigen Pflanzen.
Die Reduktion der Artenvielfalt im botanischen Garten der Gegenwart wirkt deshalb so absurd, weil sie so leicht vermeidbar wäre – wenn man sie vermeiden wollte. Etwa durch die Kommunalisierung der Gärten und eine Bürgerschaft, die bereit wäre, für das Wesentliche Opfer zu bringen.
Ein Labsal
Alfred Döblin, der Berliner Schriftsteller und Nervenarzt, schrieb im Inflationsjahr 1923 als Theaterkritiker von der tiefen Ruhe und Zufriedenheit, die er im Berliner Botanischen Garten empfinden konnte – mitten in den Katastrophen von Weimar. Ginge Deutschland vor die Hunde, blieben die Pflanzen des Gartens für ihn wie ein Labsal, schrieb er.
Döblin sah in dem Garten nicht weniger als ein Weltwunder, das die Weimarer Krisen überdauern würde. Gebaut von Generationen von Gärtnern, von Entdeckern wie Alexander von Humboldt, der die südamerikanische Sammlung begründet hat, von Botanikern wie Adelbert von Chamisso, der als Kustos des Gartens erstaunliche Beobachtungen an den Korallenriffen der Südsee machte. Döblin sah das Ensemble der Pflanzen auf einer Stufe mit den Pyramiden, mit unendlicher Mühe für die Ewigkeit gebaut.
Als in Europa die gotischen Kathedralen errichtet wurden, wurden die mittelalterlichen Städte und Gesellschaften bis an den Rand ihrer technischen, politischen und finanziellen Möglichkeiten gebracht. So kostspielig die botanischen Gärten in Berlin oder Hamburg auch sein mögen – wer würde behaupten, dass sie nicht zu erhalten wären?
Der Grund ist: das Artensterben
Es geht dabei, wenn man Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter folgt, nicht nur um den Erhalt eines Kulturguts, es geht um die Zukunft. Einen zwingenden Grund, an den botanischen Gärten festzuhalten, sieht er darin, dass sie helfen können, Erkenntnisse über das sogenannte Artensterben zu gewinnen.
„Die Reduzierung der ‚organismischen Biologie‘ ist deswegen zu bedauern, weil vor allem das derzeitige Artensterben noch völlig ungenügend erforscht ist“, sagt er. Es ist eine Biologie, die übergreifende Zusammenhänge erforscht und auch den Einfluss des Menschen einbezieht. „Inzwischen sind über 30 Prozent der Arten gefährdet, sie stehen auf der ‚Roten Liste‘, man spricht bereits vom ‚Sechsten Massensterben‘.“ Alle fünf Massensterben von Arten davor waren Naturerscheinungen – der Asteroid, der die Dinosaurier aus der Evolution ausradierte, zum Beispiel. Doch jetzt, sagt Hofreiter, führten menschliche Einflüsse dazu, dass immer mehr Arten akut bedroht seien.
Südamerikanische Frösche sterben massenhaft in den Regenwäldern wegen eines importierten heimtückischen Pilzes namens Chytrid.
Korallenriffe, jene Oasen des Lebens im Ozean, sterben nach Millionen von Jahren Wachstum an der Erwärmung und Übersäuerung des Meeres.
„Ohne die organismische Biologie wird die Menschheit nicht einmal eine Diagnose der Situation in der Hand haben. Zur Biologie gehört das Kennenlernen der Vielfalt.“ Und die, sagt er, würde in den botanischen Gärten gezeigt, und die Studierenden würden darin geschult.
Kein Rummelplatz
Maximilian Weigend läuft durch die Pflanzengeografie seines botanischen Gartens. Er ist einer von Hofreiters Studienfreunden aus der Universität Regensburg. Heute ist er Direktor der Botanischen Gärten in Bonn.
Er geht von den Sumpfbäumen aus den Südstaaten bis zu den südostasiatischen Bäumen mit riesigen lila Blüten.
„Ein botanischer Garten ist kein Rummelplatz“, sagt der energische Bayer Weigend. Die Events, die in vielen Gärten stattfinden, betrachtet er als Verlustgeschäfte, weil sie so viel Kapital und Fachkräfte unentgeltlich binden und weil sie seiner Meinung nach eher Verschleiß als Gewinn für den Garten bringen.
Aber was dann? Maximilian Weigend sagt, die Zukunft der Gärten sei in diesem Zeitalter des Artensterbens so wichtig, dass man sich ernsthaft Gedanken über alternative Finanzierungen machen sollte. Die Bonner Botanischen Gärten sehe er bei der Universität der Stadt gut aufgehoben, sagt er. Dennoch, man müsse nachdenken darüber, ob es andere, geeignetere Träger gibt als die Universität, die sich zur Industrie und nach Drittmitteln streckt.
Als Präsident des Verbands Botanischer Gärten befürwortet er die gänzliche oder teilweise Kommunalisierung der Gärten. Auch Stiftungen als Träger kann er sich vorstellen. Nur nichts tun – das gehe nicht, sagt er mit Blick auf die Schließung des Saarbrücker Gartens im April.
In Saarbrücken habe es schon vor vielen Jahren die ersten Warnzeichen gegeben. „Viele Pflanzen wandern aus ihrem angestammten Gebiet, wenn das Klima sich wandelt.“ So wie sich die Pflanzen dann eine neue Nische suchen, so müssten auch die Gärten aufbrechen. Eine Hauptaufgabe in den nächsten Jahren werde etwa die ökologische Bildung sein.
Weigend gehört, wie Hofreiter, einer jungen Generation von Botanikern an, die als Entdecker unerforschter Gebiete zu verstehen sind. Entdecker, das sind heute nicht mehr Leute auf der Suche nach der Nilquelle. Sondern auf der Suche nach den evolutionären Folgen des menschlichen Einflusses in der Welt; nach den Auswirkungen des Anthropozäns. Sie erforschen etwa die sich entwickelnde Mobilität von Pflanzen, die sich ein neues Klima suchen müssen; die Biodiversität. Botaniker sind heute so unentbehrlich für die Klimawissenschaftler wie einst Anatomiker für die Ärzte der Renaissance.
Anton Hofreiter sagt: „Wir brauchen eine Offensive für die Diversitätsforschung und dazu Lobbyarbeit. Dafür müssen neben den Gärtnern und den interessierten Bürgern auch die Wissenschaftler gewonnen werden. Die vorhandenen Gelder dürfen nicht nur für die Genetik und die Molekularbiologie verwendet werden.“
Die Ekstase des Ablaichens und der Horror
Maximilian Weigend schimpft, während er durch den Botanischen Garten läuft, zwischendurch auf die Hörigkeit gegenüber „Big Data“ bei der Vermessung der Welt des Klimawandels. Big-Data-Apologeten „denken, dass grottenschlechte Daten über Pflanzen aussagekräftig werden, wenn man sie nur massenweise erhebt“.
Das sei aber nicht so, sagt er, und da sind wir wieder bei den Anfängen der botanischen Gärten, in Padua, im 16. Jahrhundert. Bei der intensiven Beschäftigung mit dem Leben. Und bei der Sorge, dass diese kleine Ewigkeit enden könnte.
Wer einmal eine tropische Nacht auf einem Korallenriff erlebt hat, in der Zeit des Massenablaichens, das in nur einer orgiastischen Nacht des Jahres, zu Beginn des Sommers, stattfindet, der hat die Ekstase und den Horror gleichzeitig erlebt: die Ekstase über ein natürliches und immer wiederkehrendes Wunder, wenn rosafarbene Eier plötzlich millionenfach durch das Wasser nach oben pulsieren. Und den Horror über den drohenden Verlust dieser Unterwasser-Oasen, die Millionen Organismen im kargen tropischen Gewässer am Leben erhalten.
Wie die Korallenriffe spielen die botanischen Gärten eine helfende und revitalisierende Rolle, jetzt, da unsere Welt an Arten immer ärmer wird.
Es sind beide Wunder vom Zerfall bedroht.
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