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Boom fördert MindestlohnKOMMENTAR VON HANNES KOCH

Das Gewerkschaftsmotto zum 1. Mai – „Du hast mehr verdient“ – konnte man auch so verstehen: „Früher hast du mehr verdient.“ Beides stimmt. Die vergangenen Jahre waren für viele Beschäftigte in Deutschland schlechte Jahre. Sie wurden entlassen, ihr Reallohn sank, sie arbeiteten mehr für weniger Geld. Aber jetzt ist die wirtschaftliche Depression erst einmal vorbei. Und man darf hoffen, dass auch die soziale Spaltung in Arm und Reich nicht mehr so ungehemmt voranschreitet. Im Gegenteil: Im Boom sind die Aussichten der Linken, ihre Forderungen nach Lohnerhöhung und sozialer Absicherung durchzusetzen, besser als in der Krise.

Es ist kein Zufall, dass die Gewerkschaft IG Metall gerade jetzt mit einer Forderung von 6,5 Prozent Lohnzuwachs in die Tarifverhandlungen geht. Wenn Bundesarbeitsminister Franz Müntefering (SPD) eine vergleichsweise niedrige Arbeitslosenzahl von unter 4 Millionen verkündet, dann stärkt dieser Trend die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften. Die Unternehmen stellen wieder Leute ein, die Gewinne fließen, die Auftragsbücher sind voll – da wollen sich die Manager den Erfolg nicht durch langwierige Streiks verderben lassen. Der Aufschwung erhöht nicht nur die Kompromissbereitschaft – auch die zu verteilende Masse nimmt zu. Deshalb ist es einfacher, alle Interessen zu bedienen. Hinzu kommt ein alltäglicher Effekt: Wenn es ihnen materiell gut geht, fühlen sich die Menschen sicherer. Und sie wagen mal ein Experiment. Probieren etwas Neues aus, kündigen selbst, lassen sich abwerben, suchen eine andere Stelle. Der Aufschwung erhöht die Mobilität. Das wissen auch die Unternehmen – und neigen dazu, ihren Beschäftigten mehr zu bieten.

Politisch wird damit die Position derjenigen gestärkt, die auf Seiten der Arbeitnehmer stehen, also eher die von Gewerkschaften und SPD. Wo die Interessen der Beschäftigten berührt sind, dürfte es für die Union in der kommenden Zeit dagegen schwerer werden, sich durchzusetzen. Das verbessert die Aussichten für den Mindestlohn, den Müntefering einführen will. Wenn die Union da nicht mitmacht, kommt er nach der nächsten Bundestagswahl – ohne die Christdemokraten.

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