Blogger über digitalen Kontrollverlust: „Es gibt noch Freiheit im Netz“
Seit Snowden ist klar: Niemand ist mehr Herr seiner Daten. Welche Möglichkeiten es gibt damit umzugehen, fasst Michael Seemann in einem Buch zusammen.
taz: Herr Seemann, mit „Neues Spiel - Nach dem Kontrollverlust“ planen Sie ein Buch über den Informations-Kontrollverlust im Internet – http://www.startnext.de/ctrlverlustein Crowdfunding Projekt. Wird das ein Handbuch dazu, wie man in Zukunft mit Daten im Netz umzugehen hat?
Michael Seemann: Es ist in der Tat ein Buch, das auch konkrete Ratschläge geben möchte. Aber nicht nur. Es wird zur Hälfte ein theoretisches Buch, in dem es darum geht, den Grundlagen des Kontrollverlusts nachzuspüren. Ein Thema, dass mich seit drei Jahren beschäftigt. Wir müssen den Kontrollverlust erst verstehen lernen. Denn er ist es, der die Regeln so radikal umgestellt hat, dass ich von einem „neuen Spiel“ spreche.
Es ist etwa so, als ob jemand mitten beim Damespielen den Schalter auf Schach gestellt hat, aber wir alle gar nicht wissen, wie man das spielt. Unsere Probleme beruhen weniger auf dem Kontrollverlust an sich, als vielmehr darauf, diese neuen Regeln noch nicht genügend verstanden zu haben. Wir spielen das neue Spiel nach den alten Regeln und verlieren natürlich ständig.
Was sind Ihre grundlegenden Thesen?
Die grundlegende These ist der Kontrollverlust selbst: also dass mit der zunehmenden Digitalisierung der Alltagswelt, Informationen nicht mehr kontrollierbar sind. Wir merken das täglich in Sachen Datenschutz oder Urheberrechte. Aber auch Wikileaks und Snowden sind Agenten des Kontrollverlusts. Man sieht, der Kontrollverlust ist ambivalent und enorm erfolgreich, die Welt nach seinen Regeln umzugestalten. Man kann sich jetzt natürlich zurückziehen und die Welt und den Kontrollverlust verfluchen. Oder man kann versuchen ihn zu verstehen und seine Strategien anpassen.
Wie das?
ist Autor und Blogger. Seit drei Jahren beschäftigt er sich mit dem Kontrollverlust im digitalen Raum. Und auch damit, warum sich das lohnen kann.
Solche Strategien sehen wir bereits überall. Wie man zum Beispiel die Social-Media-Kanäle nutzen kann, um politische Missstände aufzuzeigen, hat der #Aufschrei gezeigt. Wie man spontan Proteste oder gar Revolutionen mithilfe der neuen Kommunikationsmedien organisieren kann, zeigten die Ereignisse von Tahrir bis Taksim. In Berlin zeigt die Datenjournalismusagentur OpenDataCity wie man mithilfe von Daten den politischen Journalismus auf eine neue Stufe heben kann. Und natürlich ist Whistleblowing die derzeit wichtigste Strategie im neuen Spiel. Ein Einzelner kann heute eine Weltmacht herausfordern.
Bislang haben wir diese Dinge immer jedes für sich betrachtet und bestaunt. Dass sie aber Symptome einer einzigen Bewegung sind, wurde immer noch nicht hinreichend verstanden.
Markieren die Snowden-Enthüllungen eine neue Chance oder den Moment, in dem die Freiheit im Netz endete?
Es ist der Moment, in dem eine naive und selbstgerechte Vorstellung von der Freiheit des Netzes endete. Was natürlich eine Chance ist. Bei Wikileaks oder beim durchs Netz zu Fall gebrachten Bundesminister zu Guttenberg war die Schadenfreunde groß – gerade im Netz. Ich habe schon damals darauf aufmerksam machen wollen, dass der Kontrollverlust uns alle ereilen wird. „Kontrollverlust ja, aber nur für die anderen“, funktioniert nicht. Das ist seit Snowden klar geworden. Nun müssen wir anfangen, darüber zu reden, wie es weitergehen kann.
Ich glaube nämlich nicht, dass die Freiheit im Netz jetzt zu Ende ist. Ich fühle mich frei, obwohl ich mir über den Kontrollverlust seit Jahren sehr bewusst bin. Der Trick ist, seine Tätigkeiten und Prozesse so zu organisieren, dass sie auch dann noch funktionieren, wenn die Informationen unvorhergesehene Wege gehen.
Wie geht das?
Ein Beispiel: Ich weiß, dass ich es sowieso nicht verhindern kann, dass mein Buch im Internet unkontrolliert kursieren wird und jeder damit machen kann, was er will. Deswegen gebe ich dem Buch gleich eine freie Lizenz („do what the fuck you want“ Anm. d. Redaktion) mit und verzichte auf die Kontrolle, die ich sowieso nicht haben werde. Gleichzeitig sorge ich aber mittels Crowdfunding dafür, dass ich auch nicht von dieser Kontrolle abhängig bin. Wenn mein Buch im Netz kursiert, bin ich bereits bezahlt.
Sie nennen es ein „neues Spiel“. Aber ist die Erfahrung des digitalen Kontrollverlusts nicht etwas sehr ernstes?
Ich glaube, die Gefahren des Kontrollverlusts für den Einzelnen sind durchaus gegeben. Aber sie werden auch maßlos überschätzt. Die Privatsphäre wird hierzulande vor sich hergetragen wie früher die unsterbliche Seele. Und auch die Kulturschaffenden weinen um ihr Urheberrecht, als sei es jemals eine funktionierende Einnahmequelle für Kreative gewesen. Das war es aber immer nur für eine einstellige Prozentzahl. Das meiste davon ist reine Rhetorik. Studien zeigen z.B. eine massive Diskrepanz von dem, was die Leute von Privatsphäre erwarten und was sie tatsächlich bereit sind dafür zu tun.
Nichtsdestotrotz gibt es auch enorme Gefahren. Unsere Demokratie, die uns die letzen Jahre einigermaßen zuverlässig vor Willkürherrschaft und Tyrannei bewahrte, wird extrem herausgefordert, wenn unsere Geheimdienste so außer Kontrolle geraten, wie wir es gerade erfahren. Dem muss dringend etwas entgegengesetzt werden. Ein pochen auf Privatsphäre aber ist keine funktionierende Strategie. Whistleblowing und Transparenzforderungen dagegen sehr wohl.
Sie sprechen davon, dass Macht sich im Netz in Form von Plattformen entwickelt. Was bedeutet das?
In der Welt des alten Spiels hatten Institutionen die Aufgabe, Leute miteinander zusammenzubringen, die komplementäre Interessen haben. Die Arbeitsagentur den Arbeitnehmer mit dem Arbeitgeber, die Unternehmen den Kunden mit dem Produkt, die Zeitungen die Information mit den Uninformierten. Aus dieser Aufgabe heraus ergab sich eine gewisse Macht. Im neuen Spiel aber können sich die Menschen frei vernetzen, weil jeder potenziellen Zugang zu den Interessen und Bedürfnissen des Anderen hat. Die Verknüpfung dieser Interessen übernehmen aber heute Plattformen wie Facebook, Google und viele andere. Das geht bis ins Alltagsleben. Mit Mytaxi braucht es keine Taxizentralen mehr, mit dem Carsharing wird auch das Autofahren zur Plattform-Service und AirBnB macht die ganze Welt zum Hotel. Alles entwickelt sich zur Plattform, was den Plattformbetreibern eine ungekannte Macht in die Hände spielt.
Unser alltägliches Leben funktioniert oft nicht mehr, wenn wir keinen Zugang zu ihm haben. Das kann für Einzelne schlimme Folgen haben. Ich glaube, wir müssen die Plattformneutralität als politisches Problem betrachten, das weit über die Netzpolitik hinausgeht. Sie ist eine der zentralen Herausforderungen im neuen Spiel.
Was sollte man auf folgenden Satz erwidern: „Mir egal, ich hab ja nichts zu verbergen“?
Als jemand der sich seit Jahren aktiv mit Post-Privacy auseinandersetzt, wäre ich zunächst einmal skeptisch. Ich würde also fragen, ob die Person sich das reiflich überlegt hat. Wenn man genau darüber nachdenkt, hat man meist mehr zu verbergen, als einem lieb ist. Wenn die Person aber auch nach reiflicher Überlegung zu diesem Schluss kommt, kann man sie nur beglückwünschen. Ich halte das jedenfalls keinesfalls für unmöglich und für einen durchaus erstrebenswerten Zustand.
Gibt es überhaupt einen Zeitpunkt „nach dem Kontrollverlust“?
Nach dem Kontrollverlust ist der Zeitpunkt, an dem wir aufgegeben haben, die Kontrolle wiederzuerlangen. Der Kontrollverlust ist das Scheitern an unrealistischen Erwartungen. Wo es keine Erwartung einer Kontrolle gibt, kann es auch keinen Kontrollverlust geben. Insofern ist der Kontrollverlust ein Übergangsphänomen.
Die Zeit nach dem Kontrollverlust wird so oder so kommen. Je schneller sie kommt, desto weniger Schaden kann der Kontrollverlust anrichten. Am Ende der Entwicklung wird aber eine von Kopf bis Fuß transformierte Gesellschaft stehen. Ich bin zu sehr Realist um zu glauben, dass sie unbedingt besser sein wird als die jetzige. Sie wird – allem Kulturpessimismus zum Trotz – aber auch nicht schlechter sein, da bin ich sicher.
Könnte die Nutzung eines alternativen Netzes, etwa Free- oder Darknets, den Kontrollverlust eindämmen?
Das sind Lösungen, die diskutierenswert sind. Ich bin allerdings skeptisch, dass sie alleine es schaffen, den großen Plattformbetreibern wirklich gefährlich zu werden. Sie sind aber wichtig – als immanente Drohung gegen den Mainstream und als Möglichkeit für Aktivisten sich nach wie vor partiell den Augen der Autoritäten entziehen zu können. Sie sind nicht die Lösung, aber sicher ein wichtiges Puzzleteil, um die Freiheit im Netz zu erhalten.
Sie bloggen seit Jahren zum Thema Kontrollverlust im Internet. Warum war es jetzt an der Zeit, die Thesen in Buchform zu veröffentlichen?
Wenn es nach meinen Freunden und Bekannten geht, ist es seit zwei Jahren an der Zeit. Ich bin bei großen Entscheidungen aber nicht der schnellste. Außerdem musste ein Weg gefunden werden, mir selbst und dem Thema publizistisch gerecht zu werden. Ich kann nicht einfach zum Verlag gehen und unter normalen Bedingungen ein Buch über den Kontrollverlust schreiben. Das Crowdfunding und die freie Lizenz sind aber genau der richtige Ansatz. Sich das auszudenken und vorzubereiten hat viel Zeit gekostet.
Der Zeitpunkt ist jetzt genau richtig, da sich in meinem Umfeld eine gewisse Resignation breit macht. So lange es die anderen getroffen hat, fanden sie den Kontrollverlust super und schworen ansonsten auf die Allheiligkeit des Datenschutzes. Diesen Vorstellungen hat Snowden nun einen Riegel vorgeschoben. Es gibt jetzt nur noch zwei Alternativen: Rückzug oder strategische Neuausrichtung. Ich biete zweiteres an. Gut, Verleugnung ist die dritte Option und ja, sie wird gerne gepflegt, aber das lass ich hier mal nicht gelten.
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