Blinde Fotograf:innen in Berlin: Zart und unheimlich leuchten
Jedes Bild ist eine aufwendige Inszenierung. Die Bildsprachen sind vielseitig in einer Ausstellung blinder Fotograf:innen in Berlin.
Mit dem Grauen Star auf der Nase besteht die Welt nur noch aus verschwommenen Flächen. „Wir stehen vor zwei Schwarzweißbildern in Hochformat“, sagt die Bildbeschreiberin Anastasia und versucht nun, mir so präzise wie möglich zu vermitteln, was sie sieht. Mehr als Hell-dunkel-Unterschiede kann ich mit der Pappbrille, die eine neunzigprozentige Sehbehinderung simuliert, nicht erkennen. Ich setze die Brille wieder ab und betrachte eines der zwei Selbstporträts von Silja Korn. Zarte Lichteffekte flimmern wie Schraffuren über ihr Gesicht und die geschlossenen Augen.
Eine Führung mit einer Bildbeschreiberin durch eine Ausstellung im Kleisthaus 2019 gab für Katharina Mouratidi, die den Freiraum für Fotografie Fhoch3 seit der Eröffnung 2017 leitet, den letzten Ausschlag, die Schau mit den vier blinden Fotograf:innen Susanne Emmermann, Mary Hartwig, Silja Korn und Gerald Pirner zu realisieren. So beeindruckt war sie von dem neuen Blick, den ihr die Bildbeschreiberin auf die Fotografien eröffnet hatte.
Bis dahin hatte sie gedacht, sie kenne die Bilder ziemlich gut, erzählt Katharina Mouratidi lachend, immerhin hatte sie die Ausstellung im Kleisthaus kuratiert. Sie war fasziniert von den Eindrücken, die durch die sprachliche Deskription hinzukamen, von der tieferen Auseinandersetzung mit den Motiven, Farben und Stimmungen der Bilder, die dieser Vermittlungsschritt erfordert.
Blinde Fotograf:innen, bis zum 17. Januar 2021 in Fhoch3 – Freiraum für Fotografie (im November geschlossen), Waldemarstraße 17, 10179 Berlin
Die Bilder von Susanne Emmermann, Mary Hartwig, Silja Korn und Gerald Pirner werden einige Besucher:innen schon allein deshalb etwas genauer betrachten, weil sie als Sehende nicht immer unmittelbar verstehen, was sie da sehen und wie die Fotograf:innen das gemacht haben. Wie entstehen die fedrigen, flockigen und harten Lichteffekte bei Mary Hartwig und die mitunter verstörende Wirkung der Porträts von Gerald Pirner? Woher kommt der Lichtschweif im unteren Drittel eines Bildes von Susanne Emmermann? Durch die Bewegung des Fahrrads? Nein, das kann nicht sein.
Taschenlampen, Wunderkerzen, Knicklichter
Dass alle Bilder aufwendige Inszenierungen sind, muss man erst einmal erfassen. Die Technik, mit der die Fotograf:innen arbeiten, heißt Light Painting. Dabei werden mithilfe einer sehenden Assistenz Menschen und Objekte nach den Vorstellungen der Fotograf:innen arrangiert. In dem danach abgedunkelten Raum wird das Motiv mit beweglichen Lichtern angeleuchtet. Die Kamera ist auf Langzeitbelichtung eingestellt. Taschenlampen, Wunderkerzen, Knicklichter kommen zum Einsatz. Je nach Art, Farbe, Tempo und Bewegung der Lichtquelle entstehen unterschiedliche Effekte und Arbeiten.
Im 2018 gegründeten Fotostudio für blinde Fotografinnen und Fotografen arbeiten die vier Fotograf:innen, die im Laufe ihres Lebens erblindet sind und teilweise erst vor wenigen Jahren, inspiriert durch den Film „Shot in the Dark“, die Fotografie für sich entdeckt haben. Wie groß und vielseitig ihre Bilderwelt ist, scheint selbst die Künstler:innen zu überraschen. Je weniger sie sehen, umso mehr Bilder entstünden, bemerkt Susanne Emmermann in einem Fernsehbeitrag.
Die großformatigen Fotografien von Mary Hartwig leuchten in Orange- und Bronzetönen. Sie haben etwas Filmhaftes, mal Zartes, mal Unheimliches. Auf manchen ihrer Bilder taucht die Fotografin selbst wie ein Geist auf.
Knallig wirken daneben die Selbstporträts von Silja Korn. „Licht bedeutet für sie Maskerade und erlaubt ihr, sich als andere zu inszenieren“, erzählt Katharina Mouratidi. Rauschhaft fröhlich tanzen in ihren Bildern blaue, pinke-, und türkisfarbene Blitze über das helle Oberteil.
Das nicht Darstellbare darstellen
Auch Gerald Pirner setzt sich in seinen Arbeiten mit sich selbst auseinander. Auf seinen reduzierten Bildern tritt sein Gesicht aus einem schwarzen Hintergrund hervor. Manchmal auch seine Hand, sein Oberkörper, sein Fuß. Hinter jedem Bild verbergen sich philosophische Überlegungen, etwa dazu, wie es gelingen kann, das nicht Darstellbare darzustellen. Den von Gerald Pirner eingelesenen Gedanken kann man mittels QR-Codes folgen.
Susanne Emmermann ist die Einzige, die sich nicht auch selbst fotografiert. Ihre Fotografien oszillieren thematisch zwischen Bewegung und Halt. Manchmal arbeitet sie draußen in den Abend- und Nachtstunden. Von ihr stammt auch das abstrakte Bild in der Ausstellung. Es lässt mich an einen Unfall denken. Rote Lichtschweife auf schwarzem Grund, die rechts aus dem Bild kippen.
Zu zeigen, dass jede:r Fotograf:in eine eigene künstlerische Vision verfolgt und eine eigene Bildsprache hat, sei ihr bei der Konzeption der Schau wichtig gewesen, sagt Katharina Mouratidi. Wie genau die visuelle Vorstellung der blinden Fotograf:innen ist, wurde ihr auch klar, als es um die Abzüge ging. Bei der Printproduktion musste sie dem Fotogafen Gerald Pirner sehr genau die unterschiedlichen Grauschattierungen beschreiben – auch für die erfahrene Fotografin und Kuratorin eine Herausforderung.
Eine Frau gesellt sich zu mir und der Bildbeschreiberin Anastasia. Mit einer schwarzen Schlafmaske vor den Augen, die man neben dem Grauen Star und drei weiteren Simulationsbrillen derzeit erwerben kann, lauscht sie den Ausführungen. Sie stellt Fragen, schiebt die Schlafmaske auf die Stirn, guckt und zieht die Maske wieder zurück.
Wir sind an diesem Nachmittag nicht die einzigen Sehenden, die auf diese Art die Ausstellung zusätzlich annähernd so erfahren, wie es für blinde Menschen und Menschen mit Sehbehinderung gängig ist. Und mir scheint, dass gerade diese Annäherung den Blick schult. Von nun an werden Besucher:innen wie ich öfter üben, präziser zu formulieren, was sie sehen.
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