Biografie einer Pariser Bohemienne: Königin des Undergrounds
Mark Braudes Porträt über Kiki de Montparnasse nimmt mit an eine Brutstätte zeitgenössischer Künste. Es zeigt, wie Kiki diese geprägt hat.
All das ist wiederum mit vielerlei Kapillaren, mit dem gesellschaftlichen Wandel verbunden, mit dem „Zeitgeist“, der die Künste prägt und den sie umgekehrt, auch mit prägen. An manchen Orten bilden sich verdichtete Atmosphären, in denen sich diese Wechselwirkungen zu Wogen auftürmen.
Mark Braude hat eben mit „Kiki Man Ray: Liebe, Kunst und Rivalität im Paris der 20er-Jahre“ eine packende, unterhaltsame und gut lesbare Geschichte eines dieser Brutplätze der Moderne vorgelegt. Hauptfigur ist Alice Prin, die als Partnerin des legendären Künstlers, Fotografen und Dada-Wegbegleiters Man Ray eine Zentralfigur der Pariser Bohème war. Allseits wurde sie Kiki gerufen, nachdem sie es geschafft hatte, in die Kreise rund um das Café Rotonde hineinzukommen, und als „Kiki de Montparnasse“ wurde sie quasi zur Queen des Undergrounds gekürt.
Dabei war sie doppelter Outcast: Einerseits als Bohéme-Figur gegenüber der konformistischen Bürgerwelt, andererseits als Unterschicht-Geschöpf in den Künstlerkreisen, die in erheblichem Maße den bürgerlichen Bildungsschichten entsprangen.
Mehr als ein Modell
Alice alias Kiki wurde 1901 als Kind eines unverheirateten Landmädchens geboren und von ihrer Großmutter gemeinsam mit ihren ebenso unehelichen fünf Cousins und Cousinen aufgezogen. Die markante Schönheit Kiki war Muse der Künstler – sie stand Modigliani Modell und vielen anderen Malern, Man Ray hat mit ihr seinen Stil entwickelt – aber sie war mehr als nur ein Modell.
Es war eine Generation, die den Krieg gerade überstanden hatte und jetzt leben wollte, gewissermaßen um jeden Preis. Bereits 1924 schrieb Djuna Barnes eines ihrer berühmten Frauenporträts über Kiki, in dem es hieß: „In alten Zeiten war ein Modell nur ein Modell; sie brach die Herzen der Männer, nicht aber ihre Konventionen.“
Kiki verwandelte die Modell-Figur von der passiven Figur zum aktiven Typus. Zu einem Charakter, der Kunst selbst seine Handschrift aufdrückte. Und sich um Konformismus nichts scherte. „Unbekümmertheit“ taucht wohl nicht zufällig als eines der ersten Attribute in Barnes' Kiki-Porträt auf.
In den Cafés sang Kiki eigene Lieder und eigene Texte, sie war eine Künstlerin des Flüchtigen, sammelte danach ein paar Francs und Centimes ein. Sie wurde sogar zum Vorbild einer Edith Piaf, die später bekundete, Kikis Talent habe sie in jungen Jahren regelrecht eingeschüchtert. Kiki malte und schrieb eine Autobiografie, deren englische Ausgabe mit einem Vorwort von Ernest Hemingway, einer ihrer vielen Bekannten, veröffentlicht wurde. Arno Breker, der Bildhauer, der später zu Hitlers führendem plastischen Künstler werden sollte, bewunderte sie und nannte sie „zweifelsohne die herrlichste (Frau in Paris), ein wahres Phänomen“.
Alkohol und Kokain
Um sich bei Laune zu halten und ihre dunklen Stimmungen zu bekämpfen, trank sie viel. Kokain half auch. André Breton, der Papst der Surrealisten, Duchamp, Paul Éluard, Georges Braque, der Maler Léger, die ganze Bubble möblierte ihr Leben. „Kiki war ein Reality-Star in surrealistischen Zeiten“, schreibt Braude.
Sie hat Spuren hinterlassen, aber in die Kunstgeschichte ging sie nicht ein, auch, weil die Geschichtsschreibung sich immer noch auf die genialen Männer konzentrierte, aber auch, weil ihre Kunst eine flüchtige war. Einen Tanz, eine Pose, einen Gesang, der in Kneipen vorgetragen wird, kann man nicht verkaufen. Man kann aber eine Fotografie verkaufen, die eine Pose einfängt.
Sie hatte einen scharfen und auch durchaus kritischen Blick auf die „Genies“ und aufgeblasenen Wichtigtuer um sie herum. Breton, Tzara, Picabia und die anderen Dada-Revoluzzer porträtierte Kiki als dumme Kinder aus guten Familien, die ein gefährliches Spiel spielten, bestens ausgestattet mit dem Geld ihrer Familien. Sie nennt sie „Leute, die die Bourgeoisie beschimpften … aber die genau wie die Leute lebten, die sie auf dem Scheiterhaufen sehen wollten. Mir waren sie zu zynisch. Ich habe sie nie verstanden.“
Über Man Ray schrieb sie, sie habe früh gewusst, dass er ein großer Künstler würde. „Seine besten Fotos hat er mit mir gemacht, er verstand meinen Körper, meinen Typ. Letzten Endes habe ich, das Modell, sein Genie zum Vorschein gebracht.“
Die befreite Frau
Man Ray, 1890 in Philadelphia als Sohn jüdischer Einwanderer geboren, geriet in die Künstlerkreise von New York, lernte dort Duchamp kennen, verschiffte sich mit diesem später nach Paris, wo er die Fotografie revolutionieren, neue Techniken entwickeln und auch den Avantgardefilm prägen würde. Er überschritt alle Genres, und auch die Generationen. Jahrzehnte später machte er sogar noch für die Rolling Stones Cover-Entwürfe, namentlich für das Album Exile on Main Street. Wenige Jahre vor seinem Tod porträtiert ihn Andy Warhol. Da war er schon ein schelmischer Alter.
Mark Braude: „Kiki Man Ray. Kunst, Liebe und Rivalität im Paris der 20er Jahre“. Übersetzt von Barbara Steckhan und Thomas Wollermann. Insel Verlag, Berlin 2023, 365 Seiten, 26 Euro
Alice Prin alias Kiki de Montparnasse war das nicht vergönnt. Im Rückblick schrieb sie, im Grunde hätten sie und andere weibliche Personen der Bohème das Konzept der befreiten Frau erfunden, „aber wir waren uns dessen gar nicht bewusst.“
Djuna Barnes beschrieb sie als eine, die „das Establishment in ihren wirbelsturmartigen Streifzügen aus den Angeln hob“. In einem zeitgenössischen Zeitungsbericht ist über die Untergrund-Königin zu lesen: „Ihr Name wird vielleicht nicht in die Annalen der Kunst eingehen, aber sie verschaffte einer jungen Generation Träume, indem sie ihr Unterhaltung schenkte“. Kiki war damals noch keine dreißig Jahre alt. Bald geht sie in das über, was sie die „Dämmerung ihres Lebens“ nennt.
Verarmt, kaputt, von Alkohol und Drogen ruiniert stirbt Kiki früh, vergessen, mit nur 52 Jahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland