Bildungspolitik der Union: Letzte Bastion Hauptschule
Bildungsministerin Schavan propagiert den Abschied von der Hauptschule. Konservativen Christdemokraten geht das zu weit, der Basis nicht.
Wenn es in diesen Tagen eine typische Geste der Bundesbildungsministerin gibt, dann diese: Als ein Kreisverbandschef nach dem anderen ans Saalmikrofon tritt und Fragen zur Bildungsreform stellt, legt Annette Schavan Zeige- und Mittelfinger einer Hand ans Kinn. Ich höre euch zu, signalisiert sie. Schavan tut das häufig an diesem Montagabend im Hamburger Congress Center.
Schavan hat eine schwere Aufgabe vor sich. Jahrzehntelang hielt die CDU das dreigliedrige Schulsystem hoch: Gymnasium, Real- und Hauptschule. Jetzt soll sie der Basis erklären, warum zukünftig zwei Schulen reichen, warum die Hauptschule wertlos ist, warum sich Real- und Hauptschule zu einer Oberschule zusammenlegen lassen. Der Bundesvorstand hat ein Papier zur Bildungspolitik der nächsten zehn Jahre geschrieben, es soll ein großer Wurf sein.
Auf den 31 Seiten, die ein Parteitag im November abnicken soll, stehen viele Ziele. Ein verpflichtendes Kitajahr für alle Kinder etwa, oder eine bessere Lehrerausbildung. Doch nur an der Hauptschule entzündete sich in den vergangenen Wochen ein heftiger Streit.
Die Vorlage: Der Parteivorstand hat im Juli ein Konzept beschlossen, das die Basis auf dem Parteitag vom 13. bis 15. November in Leipzig abstimmen wird. Zuvor wird es auf vier Bildungskonferenzen beraten.
Der Vorschulbereich gehört laut CDU zum Bildungssystem, die Partei plädiert für ein verpflichtendes letztes Kitajahr und Bildungsstandards in allen Kitas.
Die Schulstruktur stellt sich die CDU nach der Grundschule zweigliedrig vor: Neben dem Gymnasium soll es die Oberschule geben, die Haupt- und Realschule vereint. In sozialen Brennpunkten wirbt die Partei für Magnetschulen mit besonderem Profil.
Die Hochschulen sollen sich verstärkt für Studierende öffnen, die aus der beruflichen Bildung kommen. Mit einer Exzellenzinitiative "Lehrerbildung" will die CDU herausragende Konzepte an Universitäten fördern. (taz)
Kritik im Süden
Die schärfsten Kritiker sitzen im Süden, sie zählen sich zum konservativen Flügel der CDU. Ministerpräsident Volker Bouffier motzte in Hessen: "Eine Partei, die ihr Selbstverständnis vom christlichen Menschenbild herleitet, muss für die Vielfalt von Bildungsangeboten stehen und kann nicht alle Kinder in eine Schulform stecken."
Baden-Württembergs Landeschef Strobl wetterte: "Die Schlagzeile ,Bundes-CDU schafft die Hauptschule ab' ist eine Katastrophe." Nach Zumutungen wie der Bundeswehrreform, dem Abschied von der Atomkraft und der Schuldenkrise in Europa ist die Demontage des dreigliedrigen Systems, das früh vermeintlich gute Kinder von vermeintlich schlechten Kindern trennt, eine Zumutung zu viel für manche CDUler.
Die Kritiker haben keine Argumente, es geht um ein Gefühl. Ausgerechnet die Hauptschule wird zur letzten Bastion der Konservativen. Die Bundeskanzlerin schaltete sich ein, um die Aufregung herunterzudimmen. Es werde "nicht ein Ja oder Nein zur Hauptschule geben", betonte Angela Merkel. Schavan soll die Befürchtungen in der Basis zerstreuen. Die Parteispitze hat vier Bildungskonferenzen in ganz Deutschland geplant, jeder Ortsverbandsfunktionär soll mitreden.
Realitätsnahe Volkspartei
Die Ministerin steht in einem Saal mit getäfelten Wänden, rötlich-grünem Teppich und niedriger Decke, in dem 150 CDU-Funktionäre warten - die Damen tragen Perlenohrringe und Kostüm, einzelne Herren sind im Kapitänslook da. "Man sollte unser Papier nicht auf eine einzige Strukturfrage reduzieren", sagt Schavan zur Kritik ihrer Parteikollegen. "Das wird dem Thema nicht gerecht."
Sie hat die Fakten auf ihrer Seite. Viele Eltern akzeptierten die Hauptschule nicht mehr. Die Kinder bleiben aus, auch weil es bis 2020 1,8 Millionen Schüler weniger geben wird. In Großstädten gibt es Hauptschulen, in denen 90 Prozent einen Migrationshintergrund haben. "Eine Volkspartei kann an solchen Fragen nicht vorbeigehen", sagt Schavan beschwörend auf dem Podium und lehnt sich im Sessel vor. Neben ihr sitzen CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe und Sachsens Kultusminister Roland Wöller. Bei diesen Sätzen bleibt es still. Applaus gibt es erst, als Schavan betont, dass die CDU nach wie vor gegen die Einheitsschule ist. Auch etwas Selbstvergewisserung tut gut.
Das Irrwitzige ist, dass Schavan von den Konservativen wegen eines längst fälligen Realitätsabgleichs verprügelt wird. Mit dem Schwenk vollzieht die Bundespartei, was ihre Bürgermeister in Kommunen im ganzen Land seit Jahren praktizieren. Weil sie andernfalls ihre Hauptschule im Ort wegen Schülermangels schließen müssten, entscheiden sie sich lieber für eine Gemeinschaftsschule.
"Schulpolitik für das Gros der Menschen"
Arthur Christiansen, Chef der 10.000-Einwohner-Gemeinde Handewitt in Schleswig-Holstein, zeigt Weitblick. Schon seit 2007 lässt er die örtliche Hauptschule auslaufen. Jetzt besuchen Grund-, Haupt-, Real- und Förderschüler eine Gemeinschaftsschule von der ersten bis zur zehnten Klasse. "Wir machen Schulpolitik für das Gros der Menschen", sagt Christiansen schlicht. "Nicht für jene, die ihre Kinder schon seit Generationen auf's altsprachliche Gymnasium schicken."
Das Konzept geht auf: Die Anmeldezahlen steigen von Jahr zu Jahr, bald will die Gemeinde eine gymnasiale Oberstufe beantragen. Christiansen zählt die Vorteile auf: "Diese Schule passt zum Schüler, produziert weniger Verlierer und ermöglichst ein längeres gemeinsames Lernen." Christiansen ist kein Einzelkämpfer. Viele CDU-Bürgermeister dächten wie er, selbst CSUler, die auf Podien offiziell noch die Hauptschule verteidigten, sagt er.
Bernhard Bitter ist stellvertretender Bürgermeister in Lippetal, einer 18.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen. Die CDU stellt dort die absolute Mehrheit im Rat. Auch in Lippetal werden in diesem Jahr die ersten Schüler in eine örtliche Gemeinschaftsschule eingeschult. Sie lernen bis zur siebten Klasse gemeinsam und können nach Klasse 13 auch das Abitur machen. "Das pädagogische Konzept passte genau zu Lippetal", sagt Bitter. Die Anmeldungen für die Hauptschule seien noch zufriedenstellend gewesen. Aber als die Gemeinde eine Schule vorstellte, die alle Abschlüsse einschließlich des Abis anbot, stimmten 85 Prozent der Eltern für den Abschied vom gegliederten Schulsystem vor Ort.
Zustimmung im Nord
Ihre Bürgermeister sind also viel weiter als die CDU selbst, die Kinder weiter nach der Grundschule trennen will. "Wir haben viel zu lange ein System verteidigt, das Menschen in Schulkasten einteilt und Biografien von Berechtigungsscheinen abhängig macht", ist das Fazit des Handewitter Bürgermeisters Christiansen. "Das können wir uns nicht mehr leisten."
Auch im Hamburger Tagungsraum stört sich kaum einer am Verschwinden der Hauptschule. Es sind Funktionäre aus den fünf nördlichen Bundesländern, aus eher liberalen Landesverbänden. In Hamburg, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern gibt es neben dem Gymnasium sowieso nur noch eine Schule und ihre eigenen Kinder gehen eh aufs Gymnasium. "Der Drops ist gelutscht. Das ist hier keine ideologische Frage mehr", sagt eine Hamburgerin.
Norbert Wichmann, braungebrannt, rundlich, Kreisverband Eimsbüttel, stellt die einzige Frage dazu. Wie denn die neue Oberschule den verschiedenen Niveaus der ehemaligen Haupt- und Realschüler gerecht werde? Es sei ja oft so, dass Schüler, die im Unterricht nicht mitkämen, die anderen stören - und sei es nur, um den Lehrer auf sich aufmerksam zu machen, sagt er später. Als Kritik will er dies aber nicht verstanden wissen, und eine Antwort bekommt er auch nicht. "Wahrscheinlich, weil sie es nicht wussten."
Belehrung statt Gespräch
Wichmann ist nicht der Einzige, der ratlos zurückbleibt. Schavan und ihre Mitdiskutanten antworten nicht auf die Fragen der Parteimitglieder, die sich um Lehrpläne oder Klassenräume sorgen oder darum, dass Deutsch durch Englischunterricht vernachlässigt wird.
Für das Wichtigste bleibt keine Zeit, weil dem Moderator die Zeit wegrennt - das Basisgespräch wird zur Belehrung. Schavan redet wie in einer Vorlesung. In druckreifen Sätzen, als würde sie ihre Argumente in einen Setzkasten sortieren, solche wie: "Es ist ein Gebot der Klugheit, aufmerksam gegenüber jüngeren Generationen zu sein." Oder: "Das Wohl des Kindes steht im Vordergrund, nicht irgendwelche theoretischen Papiere."
Ihr viertelstündiges Schlusswort dauert gefühlt doppelt so lang, sie schlägt den Bogen vom Theologen Friedrich Schleiermacher bis zum Bildungsraum Europa. Viele Zuhörer starren in die Luft, am Ende räumen sie fast fluchtartig den Saal.
Zwei Hamburgerinnen ärgern sich später im Foyer über ihre Partei, eine von ihnen ist Grundschullehrerin. "Da muss man komplizierte Sachen mit einfachen Worten erklären", sagt sie. "Die CDU muss eine andere Ansprache für die Menschen finden." Die andere ergänzt: "Ich bin gespannt, was die Partei aus all den Anregungen zur Bildungspolitik macht. Mir reicht nicht, mich auskotzen zu können, ich will mitentscheiden."
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