Bildungsforscher über Turbo-Abitur: „G 8-Schüler schneiden besser ab“
Ulrich Vieluf und Stephan Thomsen haben G8- und G9-Schüler verglichen. Sie kommen in Hamburg und Magdeburg zu verschiedenen Ergebnissen.
taz: Herr Vieluf, Sie haben für Hamburg eine Studie namens „Kess 12“ vorgestellt, worauf die Zeitungen titelten: „Turbo-Abiturienten lernen besser“. Was haben Sie festgestellt?
Ulrich Vieluf: Wir haben die Lernentwicklung zweier vollständiger Jahrgänge vom Ende der Grundschule bis zum Abitur erforscht. Der seit 1996 von der LAU-Studie begleitete Jahrgang hat 2005 noch nach neun Jahren Abitur gemacht (G 9), der seit 2003 im Rahmen der Kess-Studie begleitete Jahrgang machte 2011 Abitur nach acht Jahren (G 8).
Am Ende haben wir verglichen, mit welchen Kompetenzen die Abiturienten die Schule verlassen. Demnach ist es so, dass die G 8-Abiturienten in Englisch mit deutlich höheren Lernständen die Schule verlassen. In Mathematik ist zwar in der Grundbildung ein leichter Rückstand festzustellen, aber in der voruniversitären Mathematik ein leichter Vorsprung. Auch in den Naturwissenschaften haben G 8-Abiturienten einen leichten Vorsprung. Auf der Leistungsebene war das G 8 kein Nachteil.
Es war ein Vorteil?
Vieluf: Wir haben nach Leistungsgruppen differenziert und die jeweils 500 Testbesten verglichen. Hier schneidet der G 8-Jahrgang hochsignifikant besser ab. Für leistungsstarke Schüler hat das G 8 deutliche Vorteile geboten. Man muss dabei bedenken, dass der Kess-Jahrgang 33 Prozent mehr Schüler zum Abitur geführt hat und einen deutlich höheren Anteil an Schülern aus dem mittleren und unteren Bereich der Sozialstruktur hatte.
Herr Thomsen, Sie haben Sachsen-Anhalt untersucht und sagen: G 8-Abiturienten sind schlechter in Mathe.
35, leitet das Niedersächsische Institut für Wirtschaftsforschung. Er ist Professor für Angewandte Wirtschaftspolitik an der Leibniz-Universität Hannover. Sein Forschungsprojekt „Analyse der mittelfristigen Auswirkungen der Verkürzung der Gymnasialschulzeit“ wird von der DFG von 2011 bis 2016 finanziert.
Stephan Thomsen: Wir haben die Absolventen des dortigen Doppeljahrgangs untersucht. Wir hatten in Sachsen-Anhalt quasi eine experimentelle Situation. Das G 8 wurde 2003 eingeführt, als die Schüler in der 9. Klasse waren. 2007 machten dort der G 8- und G 9-Jahrgang gemeinsam Abitur. Bei den Matheleistungen waren die G 8-Schüler um etwa zehn Prozent schlechter. Bei den Sprachen und im Fach Deutsch gab es keine signifikanten Unterschiede. Und es haben deutlich weniger Frauen ein Studium begonnen. Außerdem wurde deutlich seltener ein mathematisch-naturwissenschaftliches Fach gewählt.
Wie haben Sie gemessen?
Thomsen: Es gibt ja in Sachsen-Anhalt ein Zentralabitur. Der G 8- und der G 9-Jahrgang haben 2007 zum gleichen Zeitpunkt exakt die gleiche Prüfung geschrieben. Wir haben diese Noten abgefragt und alle anderen Faktoren, also zum Beispiel Effekte wie unterschiedliches Elternhaus und unterschiedliche Peergroups an Schulen, herausgerechnet. Da bleiben immer noch diese deutlichen Unterschiede bestehen.
57, betreut die Hamburger Studie „Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern“ (Kess), die seit 2003 einen Schülerjahrgang von der 4. Klasse bis zum Abitur begleitet. Er ist Lehrer und war von 1990 bis 2010 in der Schulverwaltung tätig, zuletzt als Schulbehörden-Staatsrat. Seither betreibt er Bildungsforschung.
Vieluf: Wir haben in Hamburg auch die Noten des Doppeljahrgangs G 8 und G 9 von 2010 verglichen. Auch dort haben die G 8-Schüler vor allem in den Leistungskursen Mathematik deutlich besser abgeschnitten.
Kann es sein, dass Sie beide richtig liegen und in Hamburg und Sachsen-Anhalt schlicht unterschiedlich gelernt wurde?
Vieluf: Der Jahrgang 2007 in Sachsen-Anhalt hat unter sehr spezifischen Bedingungen gelernt. Die Schüler wurden in Klasse 9 überraschend G 8-Schüler und hatten ganz andere Bedingungen als in Hamburg, wo es eine solide Einführung des G 8 gab. Insofern ist die Verallgemeinerbarkeit dieses Ergebnisses fraglich.
Thomsen: Ich sehe Ihre Hamburger Studie kritisch. Unter anderem haben Sie sieben Jahre dazwischen. Die Abiturienten von 2005 sind in den 90er-Jahren in die Gymnasien gekommen. Das ist vor dem Internet, vor den Smartphones. Die Gruppe, die 2011 das Abitur macht, lebt in einer anderen Sozioökonomie. Uns ging es darum, den Effekt der Reform zu identifizieren.
Das macht die Qualität unserer Studie aus, deshalb wird sie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Sachsen-Anhalt war für die Forschung gut geeignet, zum Beispiel weil es dort kein Ressentiment gegen die Reform gab. Beide Jahrgänge wurden unter gleichen Bedingungen überprüft. Nur hatte der eine ein Jahr weniger Zeit und dafür 33 statt 30 Stunden Unterricht pro Woche.
Aber Ihre Stichprobe ist mit 360 Schülern klein.
Thomsen: Es ist eine repräsentative Stichprobe.
Vieluf: Ich bestreite nicht, dass die G 8-Abiturienten 2007 in Magdeburg und Halberstadt ein wenig schlechter abgeschnitten haben. Nur ist dieses nicht verallgemeinerbar. Sie hätten den beobachteten Effekt in den nachfolgenden Jahrgängen überprüfen können.
Wir haben in Hamburg eine Referenz: Die Abiturnoten des Doppeljahrgangs 2010 bestätigen die in unserer Studie beobachtete Tendenz. Aber Sie wissen bei einer Abiturnote nie sicher, ob diese misst, was sie messen soll, weil die Prüfungsaufgaben ohne vorlaufende Erprobung ihrer Eignung von Fachlehrern erstellt werden. Wir haben bei Kess wissenschaftlich pilotierte Testaufgaben eingesetzt.
Thomsen: Ihre Tests sind sicher geeignet, den Leistungsstand zu messen. Das ist vernünftig. Wir wollen aber isoliert messen, was die Reform verändert hat.
Vieluf: Entsprechende Daten liegen doch auch für Hamburg vor. Als Durchschnittsnote in Mathematik-Leistungskursniveau hat der letzte G 9-Jahrgang 8,0 und der erste G 8-Jahrgang 8,7 Punkte erzielt. Bei identischen Prüfungsaufgaben. Wir haben mittlerweile zwei weitere Jahrgänge, in denen sich diese Ergebnisse stabilisieren. Sie haben ja nur Magdeburg und Halberstadt. Wir haben in Hamburg mit 4.700 G 8-Abiturienten eine breitere Basis. Und Ihre Ergebnisse sind ja auch nicht besorgniserregend.
Thomsen: Doch. Zehn Prozent Leistungsrückgang.
Vieluf: Haben Sie das für die Nachfolgejahrgänge untersucht?
Thomsen: Das lässt sich nicht mehr als Wirkung von G 8 identifizieren. Wir haben 2007 einen Effekt gemessen, der später nicht mehr sichtbar wäre, weil der Notenspiegel angeglichen wird. Wenn wir den G 8-Jahrgang 2008 messen würden, wären die Unterschiede nicht mehr vorhanden. Dann gäbe es eine Fehlinformation: Es ist alles wieder gut. Aber das ist eben nicht so.
Was leiten Sie aus Ihrer Studie ab?
Thomsen: Wir sagen nicht, wir spielen zwölf Jahre gegen 13 Jahre aus. Eigentlich war die Analyse genau aus der Debatte heraus geboren, dass wir zwei konträre Positionen haben. G 9 und G 8. Das war eine ideologisch geführte Debatte, weil es keine Evidenz gab, auf die man sich stützen konnte.
Was unsere Ergebnisse auch zeigen, ist, dass es in der Reife der Persönlichkeit keinen Unterschied gibt. Ob ein Schüler mit 18 oder 19 das Abitur macht, ist kein großer Unterschied. Aber unsere Ergebnisse zeigen die Veränderungen in der Mathematik und der Studierneigung, wo wir überlegen, inwieweit diese Tendenz übertragbar ist.
Was sollte man tun?
Thomsen: Pädagogen und Lehrplanentwickler sollten überlegen: Was soll das Lernziel sein und wie viel Matheunterricht braucht man, um dahin zu kommen?
Dann wären schlechtere Mathekenntnisse nicht schlimm?
Thomsen: Das würde ich als Ökonom nicht sagen. Ob es Auswirkungen im späteren Studienerfolg oder im Berufsleben gibt, kann man noch nicht sagen. Wir werden die untersuchte Gruppe 2014 diesbezüglich noch einmal befragen.
Ist die Suche nach dem Effekt nicht egal, solange die Ergebnisse besser sind?
Thomsen: Nein. Mich stört als Ökonom, wenn man uninformiert am lebenden Objekt etwas reformiert. Nehmen wir den Worstcase an: Der Zehn-Prozent-Effekt in der Mathematik würde zu einem Zehn-Prozent-Rückgang im Arbeitsleben führen und wir hätten einen Zehn-Prozent-Rückgang in der Produktivität. Es ist Fiktion, aber überlegen Sie, es würde sich so übertragen. Oder wenn aufgrund von Orientierungsproblemen das falsche Studienfach gewählt wird, dann ist der Faktor Arbeit nicht optimal eingesetzt. Das kann zu großen Wohlfahrtsverlusten führen.
Vieluf: Wir führen in Hamburg zunehmend mehr Kinder zum Abitur und erhöhen damit den Faktor Bildung für die Volkswirtschaft.
Thomsen: Das hat aber nichts mit G 8 zu tun.
Vieluf: Sie entwerfen ein Negativ-Szenario und stilisieren es hoch. Ebenso gut ließe sich auf der Basis unserer Ergebnisse annehmen, dass wir auf gutem Wege sind, die Rendite schulischer Bildung zu erhöhen, zum Beispiel weil deutlich mehr junge Menschen mit Hochschulabschluss früher ins Berufsleben eintreten.
Thomsen: Was ist Ihr Eindruck, Frau Kutter?
Mir sind Ihre Feststellungen zur Reife nicht geheuer. Denn viele Eltern äußern, das Tempo tut ihren Kindern nicht gut.
Thomsen: Wir haben die Persönlichkeitsentwicklung gemessen. Die Vermutung, dass dieses eine Jahr einen starken Effekt hat, fanden wir nicht bestätigt. Was nicht heißt, dass es eine höhere Belastung der Kinder gibt.
Es gibt in Verbindung mit dem schnelleren Bachelor-Studium auch die Warnung vor Burn-out und Erschöpfung.
Thomsen: Das stelle ich nicht infrage. Ich sage auch nicht, dass die ökonomischen Intention der Reform für mich eine Gute ist. Die Schüler sollen ein Jahr früher ins Arbeitsleben, unter anderem, um die Renten zu sichern.
Vieluf: Wenn man sich auf diese Bauchgefühl-Debatte einlässt, dann frage ich schon nach den Maßstäben. Womit wird das verglichen? Wir hatten bereits in der LAU-Studie unter den Rahmenbedingungen des G 9 hohe Belastungen für einen nicht unerheblichen Teil der Schülerschaft wahrgenommen und können nicht bestätigen, dass beim Kess-Jahrgang die erlebten Belastungen insgesamt gestiegen seien.
So oder so bleibt festzustellen: Wir haben ein völlig überfrachtetes Curriculum. Hier müssten sich die Länder wegen der wechselseitigen Anerkennung des Abiturs verständigen. Diese Hausaufgabe ist noch nicht gemacht. Das Problem ist nicht G 8 oder G 9, sondern die nach wie vor ausstehende curriculare Reform.
Thomsen: Da haben wir Konsens. Ich möchte Evidenz in eine Debatte führen, die mir zu stark vom Bauchgefühl geleitet ist. Denn die Leidtragenden sind die Schüler. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, wenn man jetzt einfach wieder zurückkehrt. Man hat es jetzt geschafft, die Implementationsphase hinter sich zu bringen. Wenn man jetzt einfach zurückkehrt, geht das zu Lasten der Schüler.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Kohleausstieg 2030 in Gefahr
Aus für neue Kraftwerkspläne
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Russlands Nachschub im Ukraine-Krieg
Zu viele Vaterlandshelden