Bildung in der Türkei: Dschihad statt Republikgründung
Die AKP-Regierung legt einen neuen Lehrplan vor. Nach den Sommerferien lernen die Schüler*innen dann über den Propheten oder die Putschnacht.
Die vielleicht weitreichendste Lehrplanänderung der Türkei hat Bildungsminister Ismet Yılmaz kleingeredet. Es handle sich um eine simple „Vereinfachung“ des aktuellen Bildungsprogramms, sagte der AKP-Politiker. Dabei ist das, was Yılmaz vor zwei Wochen auf einer Pressekonferenz in Ankara vorgestellt hat, ein bedeutender Schritt für die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Durch den neuen Lehrplan wird der Laizismus in der Türkei weiter zurückgedrängt – zugunsten „religiöser“ und „nationaler“ Inhalte.
Evolutionstheorie gestrichen
So steht es in dem alle Fächer umfassenden neuen Lehrplan, an dem das Bildungsministerium nach eigenen Angaben seit 2005 arbeitet. Er sieht eine reduzierte Stundenzahl in Naturwissenschaften, Philosophie und Kunst vor, ganze Themenblöcke wie die Evolutionstheorie kommen darin nicht mehr vor. Die Begründung: Die Schüler*innen verfügten nicht über die ausreichende „philosophische Sachkenntnis und Kompetenz“.
Auch laizistische Inhalte wie beispielsweise die Gründung der kemalistischen Republik wurden gestrichen. Künftig sollen die jungen Türk*innen weniger über den in der Türkei all präsenten Staatsgründer Kemal Atatürk lernen, sondern mehr über – Erdoğan und die jüngsten Ereignisse der türkischen Geschichte.
Jahrgang 1981, freie Journalistin. Hat an der Universität Ankara Journalistik und Kommunikationswissenschaft studiert. Ihre journalistische Laufbahn startete sie als Korrespondentin für die Online-Portale soL Haber. Derzeit schreibt sie Reportagen und Portraits für unterschiedliche Nachrichtenportale.
Die Lehrplanänderungen, sagt Bildungsminister Yılmaz auf der Pressekonferenz, entsprechen den Plänen der AKP-Regierung. Und die hat in Bildungsfragen längst die laizistische Haltung aufgegeben, wie die gezielte Stärkung der religiösen Imam-Hatip-Schulen sowie die Einführung des verpflichtenden Religionsunterrichts zeigen.
Stärkung der Religion in der Bildung nicht neu
Im Jahr 2012 führte die AKP-Regierung das umstrittene 4+4+4 Schulsystem ein. Mit der neuen Schulregelung war es nun möglich, nicht erst nach der achten, sondern bereits nach der vierten Klasse eine Imam-Hatip-Schule zu besuchen. Deren Hauptaufgabe besteht darin, religiöse Geistliche auszubilden. Inzwischen werden Imam-Hatip-Schulen in der konservativen Bevölkerung als Regelschulen bevorzugt.
Dem Bildungsministerium zufolge sie die am meisten wachsende Schulart. Die Schülerzahlen stiegen von 95.000 (2012–13) auf knapp 660.000 (2016–17). Aktuell gibt es 1.149 Imam-Hatip-Schulen, 976 wurden seit 2002 neu gegründet und 109 Gymnasien in solche umgewandelt.
Diesen Kurs verstärkt der neue Lehrplan, der nach den türkischen Sommerferien im September gelten soll. Ein zentraler Bestandteil, der in alle Fächer in den Unterricht eingebettet wird: die Ereignisse rund um die Putschnacht des 15. Juli. In sämtlichen Unterrichtseinheiten, in denen Demokratie ein Thema ist, lautet fortan der Schwerpunkt „15. Juli und der Tag der nationalen Einheit“.
Aufsätze über die Märtyrer der Putschnacht
Und im Fach Türkisch müssen künftig alle Schüler*innen einen Aufsatz mit dem Titel „Der Sieg der Demokratie und die Märtyrer des 15. Juli“ schreiben. Dort, wo bislang über Atatürk und die Anfänge der Republiksgründung gesprochen wurde, steht nun verstärkt die osmanische Geschichte auf dem Stundenplan.
Eine Stärkung der osmanischen Identität hat Präsident Erdoğan schon häufiger gefordert. Zuletzt sagte er während der Feierlichkeiten zum 19. Mai, dem Nationalfeiertag in Gedenken an Atatürk: „Sie lehrten uns eine Geschichte der Unterlegenheit und Primitivität, sie gaben uns eine armselige Vergangenheit. Sie verwehrten uns die Kenntnis über unsere ruhm- und glorreiche Vergangenheit. Wir wünschen mit dem neuen Lehrplan eben diese ruhm- und glorreiche Geschichte in die Geschichtsbücher niederzuschreiben.“
Für die neuen Schulbücher bedeutet das nicht nur, die osmanische Vergangenheit in rühmenden Licht darzustellen. Niederlagen kommen in der Erzählung des ungeschlagenen osmanischen Reiches nicht mehr vor. Und mit der Rückbesinnung auf das Osmanische Reich wird auch ein anderer Bereich aufgewertet: die Religion.
Kein Matheunterricht ohne Dschihadkenntnisse
Künftig wird es an Schulen ein neues Unterrichtsfach namens „Wertekunde“ geben. Dazu gehören religiöse Unterrichtseinheiten wie etwa „Halal, Haram, Rechte der Gläubigen“, die über islamische Grundbegriffe aufklären. Oder „Krieg und Dschihad“, eine Unterrichtseinheit, von dem sich das Bildungsministerium offensichtlich viel verspricht.
„Es ist eine Bereicherung, dass unseren Kindern ein erstklassiger Begriff vom Dschihad vermittelt wird“, so Bildungsminister Yılmaz. Der Istanbuler AKP-Abgeordneter Ahmet Hamdi Çamli, Mitglied des Bildungsausschusses im Parlament, pflichtete der Aussage des Bildungsministers bei und fügte hinzu: „Es hat keinen Sinn, einem Kind ohne Kenntnisse über den Dschihad, Wissen über Mathematik zu vermitteln.“
Zur Wertekunde gehören aber nicht nur Themen wie „Gebete im Alltag“, „Fasten im Ramadan“ und „Liebe zum Propheten“. Sondern auch die Einordnung jüngerer politischer Ereignisse. Die Gezi-Protestbewegung in Istanbul wird darin als Machenschaft von in- und ausländischen Mächten dargestellt, die Gülen-Bewegung als als Terrororganisation, die für den Putschversuch verantwortlich ist.
Strittige Religionsstiftung
Wie sehr die Religion aufgewertet wurde, zeigt nicht nur die erhöhte Stundenzahl des Schulfaches. Sondern auch, dass „religiöse Aktivitäten“ auch in den Fächern Philosophie, Musik, Geografie und Weltgeschichte integriert werden sollen. Es ist die Handschrift der Religionsstiftung Ensar, die am neuen Lehrplan mitschrieb. Die konservativ religiöse Stiftung engagiert sich vorrangig im Bildungssektor und steht ideologisch der AKP nahe.
Als die Stiftung im vergangenen Jahr wegen eines Missbrauchsfalls in einem von ihr geführten Schülerwohnheim in der südostanatolischen Provinz Karaman in der Kritik stand, verteidigten sie Familienmitglieder Erdoğans, die in enger Verbindung mit der Religionsstiftung stehen.
Über den neuen Lehrplan gibt es wenig Diskussionen. Lediglich Bildungsgewerkschaften kritisierten den Lehrplan öffentlich. Die Gewerkschaft Eğitim-Bir kritisierte den Lehrplan als „Kampfansage gegen Wissenschaft und Aufklärung“, der wenig mit Bildung zu tun habe.
Kritik der Bildungsgewerkschaften
„Der Lehrplan“, heißt es in der schriftlichen Stellungnahme einer anderen Gewerkschaft (Eğitim Iş) „spiegelt direkt oder indirekt die politischen Ansichten der AKP wider, erinnert bei jeder Gelegenheit an den Putschversuch, dabei erhalten religiöse Themen mehr Gewicht, während naturwissenschaftliche Themen reduziert und der Begriff des Kemalismus in den Schatten gerückt werden.“
Auch der Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen, Feray Aytekin Aydoğan, kritisierte den neuen Lehrplan. Er habe wenig mit dem Begriff Wissen zu tun und sei ganz ohne die Beteiligung der Bildungs- und Lehrergewerkschaften erstellt worden.
Das Bildungsministerium wiederum behauptet, dass die Ergebnisse einer Studie mit mehr als 100.000 Befragten in den Lehrplan eingeflossen sei. Allerdings wird nirgends aufgeschlüsselt, was genau diese Umfrage ergeben hat – und in und in welcher Form sie konkret im neuen Lehrplan umgesetzt wurde.
Gezielte Homogenisierung der Bevölkerung
Prof. Dr. Nejla Kurul, ehemalige Lehrbeauftragte für Bildungswissenschaften an der Universität in Ankara, ist sich sicher: Die Regierung will mit dem auf islamistische Werte basierenden Lehrplan eine „ganz bestimmte Ideologie implementieren und verbreiten“. Dadurch solle die Bevölkerung weiter homogenisiert werden.
Kurul wurde aus dem Staatsdienst entlassen, weil sie vergangenes Jahr die Forderung der „Academics for Peace“ unterzeichnete, den Krieg der Regierung gegen die kurdische Bevölkerung im Osten der Türkei zu beenden. Sie glaubt, dass die Regierung über eine religiöse Bildung und Gehorsam „neue Menschen“ schaffen will, die nicht selbst denken müssen.
Der neue Lehrplan, fürchtet Kurul, könnte das hervorbringen, was Kritiker dem Präsidenten Erdoğan schon lange als Wunsch unterstellen: eine hasserfüllte und religiöse Generation.
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