Bilanz der Berliner Radnetze: Tröpfelnde Infrastruktur

Der Verein Changing Cities kritisiert das lahme Tempo beim Ausrollen der neuen Radverkehrsanlagen. In der Mobilitätsverwaltung zählt man etwas anders.

Mensch in weißem Overall sprüht Fahrradsymbol auf Straße

So schnell geht's normalerweise nicht: Sprayaktion auf der Charlottenburger Kaiser-Friedrich-Straße Foto: Stefan Zeitz/imago

BERLIN taz | Der Aufbau einer sicheren und komfortablen stadtweiten Fahrradinfrastruktur gehört zu den großen Themen der grünen Verkehrspolitik, mit denen auch Senatorin Bettina Jarasch aktuell ihren Wahlkampf bestreitet. Von den AktivistInnen des Vereins Changing Cities – die diesen Umbau vor Jahren mit dem „Volksentscheid Fahrrad“ angestoßen hatten –, kommt nun ein gehöriger Dämpfer: Am Dienstag stellten sie ihren Monitoringbericht zum Berliner Radverkehrsnetz vor – und die Ergebnisse sind mau.

„Die Richtung stimmt“, so Changing-Cities-Aktivist Jens Steckel, „aber die Quantität reicht hinten und vorne nicht.“ Begutachte man die bisher angelegten Radwege, -spuren und -straßen nach allen baulichen und sonstigen Standards, die sich der Senat mit dem 2021 beschlossenen Radverkehrsplan selbst gegeben hat, sei noch nicht einmal 1 Prozent des Radverkehrsnetzes auf die Straße gebracht. Der Grund: Es gebe in den Verwaltungen zwar mittlerweile rund 80 PlanerInnen-Stellen, angesichts der Dimension der Aufgaben sei das aber noch viel zu wenig.

Die Rechnung, die der Verein aufmacht, geht so: Laut dem 2018 in Kraft getretenen Mobilitätsgesetz muss das Land nicht nur ein „Vorrangnetz“ und ein „Ergänzungsnetz“ sowie mindestens 100 Kilometer Radschnellverbindungen schaffen – auch jede darin nicht enthaltene Hauptstraße ist mit breiten, sicheren und gut befahrbaren Radverkehrsanlagen auszustatten. In der Summe ergeben sich 2.698 Netz-Kilometer. Umgesetzt hätten Senat und Bezirke bis zum 31. Dezember 2022 aber nur 113 Kilometer, sprich: 4,3 Prozent.

Die Mobilitäts-AktivistInnen haben aber auch Breiten von Wegen und Abstände zu Kfz-Spuren nachgemessen oder die Qualität von Oberflächen bewertet. Hier gelten für alle Teilnetze klare Standards, im Vorrangnetz sind sie besonders hoch: Hier muss etwa ein Radfahrstreifen, der nur in eine Richtung führt, mindestens 2,5 Meter breit sein, bei einem Streifen im „Zweirichtungsverkehr“ sind es 4 Meter.

„Das ist doch kein Radnetz“

Werden nur die baulichen Standards in Betracht gezogen, ist laut Changing Cities lediglich 1 Prozent des Gesamtnetzes fertig, zieht man weitergehende Standards wie Vorrangschaltungen von Ampeln für Radfahrende hinzu, kommt man gerade einmal auf 0,6 Prozent. „Das ist doch kein Radnetz“, heißt es dann auch auf der aktuellen Plakatkampagne des Vereins. Gezeigt werden da die Umrisse Berlins, in denen sich ein paar kümmerliche Wegestummel verlieren, von denen sich kaum welche überschneiden.

In diesem Tempo werde das Land das gesamte Netz niemals bis 2030 fertigstellen können, sagte Changing-Cities-Sprecherin Ragnhild Sørensen. Ihr ist es ernst: „Wir haben nicht so viele Jahre für diese Sache gekämpft, um das jetzt links liegen zu lassen.“ Es sei nun wichtig, dass „die Kilometer auf die Straße kommen“, der Fokus müsse lauten: „Bauen, Bauen, Bauen“. Im Gegensatz zu CDU und FDP, die schon jetzt dem noch kaum eingeschränkten Raum für Autos nachtrauerten, aber auch zu Teilen der SPD stehe die grüne Senatorin wenigstens grundsätzlich voll hinter den geltenden Zielen.

Jan Thomsen, Sprecher der Senatsverwaltung für Mobilität, will das nicht alles so stehen lassen: Zum einen stimme die Zahl von 113 Kilometern nicht ganz, tatsächlich seien von 2017 bis Ende 2022 „rund 130 Kilometer Strecken Radverkehrsanlagen neu gebaut oder verbessert“ worden. Die Differenz sei offenbar Projekten geschuldet, die erst noch in die Datenbank eingepflegt würden: Dabei handele es sich um eigenfinanzierte Maßnahmen der Bezirke sowie solche, die in der Senatsverwaltung unter der Regie der für Bundesstraßen und Brücken zuständigen Abteilung Tiefbau oder der „Projekteinheit Radwege“ liefen.

Nicht bei Null angefangen

Zudem, so Thomsen, setzten diese Maßnahmen nicht auf Null auf. Es habe schon vorher rund 50 Kilometer Radfahrstreifen und rund 120 Kilometer baulich getrennte Radwege gegeben, auch wenn diese größtenteils nicht den deutlich höheren Standards des Radverkehrsplans genügten. Jetzt gehe es darum, die Qualität dieser Anlagen auf diese Standards anzuheben.

Nicht mitgehen will Jaraschs Sprecher vor allem bei der Frage nach den Standards der neu angelegten Infrastruktur: „Die genannten Zahlen können wir aktuell nicht bestätigen.“ Die Einhaltung der Kriterien werde derzeit durch die Senatsverwaltung zusammen mit der landeseigenen infraVelo GmbH überprüft – mit einem Monitoring-System, an dessen Entwicklung Changing Cities und der ADFC beteiligt gewesen seien.

In jedem Fall sieht auch der Radverkehrsplan eine Art exponentielles Wachstum der Infrastruktur vor: So sollen in diesem Jahr 60 Kilometer Anlagen fertig werden, von 2026 bis 2030 sollen es dann jährlich 350 oder sogar 450 Kilometer sein.

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