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Bier und Fußball im Gespräch„Das mit dem Bier überhöre ich“

Im Stadion wird gern gebechert. Marcus Kinder macht da nicht mehr mit. Der Union-Fan ist trockenund weiß, dass Fußball auch ohne Alkohol geht.

Marcus Kinder weiß mittlerweile, dass Fußball auch nüchtern geht Foto: Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz
Interview von Gunnar Leue

taz: Herr Kinder, auf einem Transparent der Union-Ultras im Stadion stand mal der Spruch: „Fifa-Mafia, wir nehmen euch so ernst wie alkoholfreies Bier“. Sie stehen regelmäßig im Stadion auf der Waldseite neben den Ultras, aber für Sie ist Bier generell tabu, selbst alkoholfreies?

Marcus Kinder: Ja, ich bin seit drei Jahren trocken und trinke auch im Stadion nur Kaffee oder Cola.

Das war früher ganz anders?

Klar. Vorm Spiel hieß es Vorglühen. Im Stadion wurde weiter gebechert und nach dem Spiel sowieso. Vom Spiel selbst habe ich gegen Schluss oft gar nichts mehr mitbekommen.

Was geht Ihnen da durch den Kopf, wenn Sie den Werbesong des Union-Biersponsors mit der Textzeile „Berlin, du bist so wunderbar“ heute im Stadion hören?

Ich mag nach wie vor den Song und die Botschaft, die er vermittelt. Berlin ist eine coole Stadt. Das mit dem Bier überhöre ich aber mittlerweile. Genauso, wenn ich mit meinen Freunden in unserer Hellersdorfer Kneipe Champions League gucke und dabei immer die Bierwerbung sehe.

Vor den Spielen der Nationalelf laufen jetzt im Fernsehen Werbetrailer für alkoholfreies Bier.

Ein schöner Versuch mit alkoholfreiem Bier, aber im Stadion wird das nur müde belächelt. Aber selbst auf diese Weise ist das Thema Bier immer irgendwo mit dem Fußball verknüpft. Wobei, im Eishockey ist es sicher nicht anders. Wenn ich die Eisbären-Fans auf dem Weg in die Mercedes-Arena sehe, da entdecke ich auch keinen mit einer Flasche Wasser.

Berlin im Dschum erleben finden ja viele wunderbar. Wie war es, Fußball permanent bedschumt zu erleben?

Man erlebt alles intensiver, die schönen wie die schlechten Momente. Sei es im Spiel, wenn in der 89. Minute noch das Siegtor fällt oder in der Schlussminute das 1:2. Aber auch die Atmosphäre rund ums Spiel ist im Dschum irgendwie geil, zum Beispiel die Stunde vorm Anpfiff im Stadion beim Einsingen. Oder ganz besonders bei den Auswärtsspielen. Die Auswärtsfahrt erlebt man einfach anders, wenn man einen drinne hat. Wenn man am gegnerischen Stadion ankommt und die gegnerischen Fans sieht und die Polizisten, das stachelt einen auf, man pöbelt rum, man verhält sich anders als sonst.

Weil mit Alkohol die Hemmschwelle sinkt?

Ja, bei mir war es so. Man ist aufgestachelt, gerade in der Gruppe.

Haben Sie sich geprügelt?

Mit der Staatsmacht habe ich es vermieden. Gepöbelt ja, aber immer mit einem sicheren Abstand. Ich weiß nicht, ob es einfach nur das Glück des Besoffenen war, dass mir nichts passiert ist. Wahrscheinlich war es mein Glück, dass ich in diesen Situationen stets zwei Freunde dabei hatte, die nicht so voll waren wie ich. Die haben mich oft zurückgehalten, wofür ich ihnen sehr dankbar bin, sonst wäre die Sache vielleicht in eine ganz andere Richtung gelaufen. Die beiden sind heute noch gute Freunde, mit denen ich zum Fußball gehe, auch bei Auswärtsspielen. Allerdings nur, wenn einer mit dem Auto fährt.

Zugfahren fällt aus?

Mit dem Zug oder dem Bus geht gar nicht, da gibt es zu viele Flashbacks.

Gespräche im Dschum sind anders, man labert halt viel. Heute steht man da und denkt: Ja gut, das muss ich jetzt nicht hören

Der Union-Partyzug am letzten Spieltag in dieser Saison am 19. Mai nach Bochum …

… höchstens wenn ich vorne beim Lokführer säße.

Wie begann es eigentlich bei Ihnen mit der Trinkerei?

Als Jugendlicher bin ich in Hellersdorf, wo ich aufwuchs, zu Punkkonzerten in Jugendklubs gegangen. Das erste Konzert, bei dem ich merkte, dass mir die Musik gefällt, war übrigens von einer Band namens Soifass. Ich war oft im Klub Kiste in Hellersdorf. Punk für 3 Euro, dazu Sternburg-Bier, das fand ich cool. In der Zeit bin ich auch schon regelmäßig zum Fußball gegangen. Nachdem ich als Grundschüler Borussia Dortmund toll fand, hatte ich mit 13, 14 ich eine Affinität zu Hertha und war auch ein paar Mal im Olympiastadion. Auf dem Gymnasium bekam ich dann etliche Mitschüler, die Union-Fans waren. Einer hatte mich eines Tages mitgenommen an die Alte Försterei, wo mich die Atmosphäre sofort gepackt hat.

Das war noch im alten Stadion?

Ja, damals war das auch noch nicht immer ausverkauft. Man kam, anders als heute, auch ohne Dauerkarte zu jedem Spiel. So bestanden meine Wochenenden jedenfalls bald meistens aus Musik oder Fußball und Saufen. Das gehörte damals zusammen und es gehört heute eigentlich genauso zusammen, nur dass ich nicht mehr mittrinke.

Wann haben Sie erstmals die Reißleine gezogen?

2014 habe ich meine erste Entgiftung im Krankenhaus gemacht. Zu dem Zeitpunkt war es ja so, dass ich mich vom Fußball sogar schon zurückgezogen hatte, weil ich nur noch alleine trinken wollte. Ich habe praktisch ein Jahr lang nur für mich allein getrunken, immer bemüht, irgendwie den Pegel zu halten, was in der Woche auch irgendwie ging. Mit Hängen und Würgen hatte ich mich auf Arbeit bis ins Wochenende gerettet, aber dann konnte ich gar nicht mehr ins Stadion, weil ich Samstagvormittag schon betrunken war. Ich hatte auch keine Dauerkarte mehr gekauft, weil ich das Geld für Alkohol brauchte. So habe ich mich zunehmend auch von meinen Fußballkumpels entfernt. Eine Freundin hatte ich nicht, da war in der Situation gar nicht dran zu denken. Union verfolgte ich nur noch im Fernsehen und Internet. 2014 habe ich mich selbst schlau gemacht, eine Suchtberatungsstelle und dann eine Therapeutin aufgesucht. Anschließend war ich zehn Tage zur Entgiftung im Unfallkrankenhaus Berlin.

Hardcore?

Kann man so sagen, eine echte Tortur, auch wenn man Medikamente bekommen kann, um die Entzugserscheinungen zu mildern. Der Körper dreht durch, man schwitzt, der Blutdruck geht hoch, man schläft schlecht, der Kopf kreist in den ersten Tagen nur um das eine Thema: Alkohol. Ich habe es geschafft, aber leider bin ich nicht auf den Rat eingegangen, eine Langzeittherapie zu machen. Das Ergebnis war: Irgendwann trank ich doch mal ein Bier, dann zwei, und drin war ich wieder. Nachdem ich meinen Job verloren hatte, entschloss ich mich 2016 zu meiner zweiten Entgiftung. Seither habe ich den Umgang mit meinem Alkoholproblem gelernt.

Das heißt, auch kein alkoholfreies Bier?

Nein, ich als trockener Alkoholiker trinke kein solches Bier, weil es nicht wirklich 0,0 Prozent hat. Außerdem wäre der Effekt beim Trinken für mich der Gleiche wie bei alkoholhaltigem Bier: Man entkorkt genauso, trinkt genauso, der Geschmack ist genauso. Mein Gehirn kann das nicht unterscheiden. Also trinke ich vor oder während des Spiels Kaffee, Fanta und so.

Im Stadion gibt’s beim Torjubel auf den Rängen oft eine Bierdusche, weil die Fans ihre vollen Becher in die Luft werfen. Ist es für Sie schon problematisch, bei so einem Jubel das Bier abzukriegen?

Ich fühle mich dann tatsächlich sehr unwohl. Bis jetzt hatte ich aber Glück und nur mal Bierspritzer an die Jacke bekommen, aber noch keine komplette Bierdusche über den Kopf. In dem Falle würde ich wahrscheinlich auch gehen. Meine Kumpels passen auch ein bisschen mit auf mich auf.

Die trinken aber neben Ihnen weiter ihr Bier?

Ja, sicher, und ich rieche auch ihre Bierfahnen, aber ich stoße nicht mehr mit ihnen an, denn das Zuprosten ist auch so ein Ritual, das ans richtige Trinken erinnert. Meine Kumpels akzeptieren natürlich, dass ich nicht mehr mittrinke und sie hatten mich auch beim Aufhören unterstützt. Ohne meine Freunde alleine ins Stadion zu gehen, wäre für mich heute schwierig, denn sie geben mir auch Halt. Ich würde sicher nicht rückfällig werden, mich aber weniger wohlfühlen.

Wie ist es, das Spiel und den Trubel drumherum nüchtern zu erleben?

Die Momente vorm Spiel, wenn ich mein Wasser oder meinen Kaffee trinke, unterscheiden sich schon sehr von früher, bei Konzerten übrigens genauso. Gespräche im Dschum sind eben anders, man labert halt viel. Heute steht man daneben und denkt: Ja gut, das muss ich jetzt nicht die ganze Zeit anhören, auch wenn es manchmal ganz lustig ist.

Im Interview: Marcus Kinder

Der Mensch

Marcus Kinder wurde vor 33 Jahren in Mitte geboren und ist mit seinen Eltern früh nach Hellersdorf gezogen. Dort entdeckte er als Teenager die Punkmusikszene durch Konzerte in Marzahn-Hellersdorfer Clubs und parallel auch das Fußballfantum für sich. Zunächst bei Hertha BSC, dann beim 1. FC Union.

Das Trinken

Parallel zu den beiden Freizeitaktivitäten begann seine Trinkerkarriere, die ihn 2014 zur ersten Entgiftungskur führte und nach einem Rückfall 2016 zur zweiten Therapie. Im vergangenen Jahr hatte der Union-Anhänger – der bei Länderspielen aus Liebe zum Mutterland des Fußballs vorzugsweise zu England hält – eine Selbsthilfegruppe „Anpfiff – Fußball ohne Alkohol“ in Marzahn gegründet. Mangels Teilnehmern liegt die derzeit auf Eis, kann aber jederzeit wiederbelebt werden. Jedenfalls ist das der Wunsch von Marcus Kinder, der selbst keinen Fußball im Verein gespielt, sondern acht Jahre Karate gemacht hat. Kontakt: Selbsthilfe-, Kontakt- und Beratungsstelle Marzahn-Hellersdorf, www.wuhletal.de, selbsthilfe@wuhletal.de

Und das Spiel selbst?

Das erste Spiel im Stadion nach meinem Entzug – ich weiß noch, es war gegen Kaiserslautern – war schon eine neue Erfahrung. Die Emotionen kommen zwar allmählich mit dem Spielverlauf, weil man natürlich den Schiri oder die Gegenspieler in bestimmten Situationen beschimpft, aber es ist alles gehemmter.

Achten Sie jetzt mehr auf die sportliche Qualität des Spiels?

Ich bin kein Taktikfuchs, aber ich schaue schon mehr darauf, wie gespielt wird und sehe mir die Kombinationen genauer an. Mir fällt auch mehr auf als früher, was auf dem Rasen passiert.

Fußballprofis sind heute auch in der zweiten Liga sehr ambitioniert, was auch ihren Lebenswandel betrifft. Früher galten Spieler oft als trinkfreudig. Mario Basler hat aus seinen Anekdoten als biertrinkender Profi sogar ein Programm gemacht, mit dem er neulich bei den Wühlmäusen auftrat und viel Publikum zog.

Ach so? Aber es stimmt, viele Fans finden solche Anekdoten natürlich unterhaltsam. Vielleicht auch, weil sich die Zeiten da doch geändert haben und es kaum noch Spieler gibt, die in der Öffentlichkeit trinken oder damit auffallen. Heutzutage werden die Profis von früh an auf einen ordentlichen Lebenswandel getrimmt. Man muss sich ja nur den Ronaldo ansehen. Wie der seine Fitness öffentlich zeigt, das ist dann sicher auch ein Vorbild für junge Fußballer.

Andererseits ist Stadionfußball auf den Rängen mehr denn je Partytime, die wegen der Verwertung durchs Fernsehen auch immer früher beginnt. Haben die Vereine einen Anteil an der Exzessausdehnung an den Spieltagen?

Das sehe ich nicht so. Wenn ein 14-Jähriger schon mittags halb zwölf mit „Berliner Luft“ vorglüht, ist das sicherlich genauso falsch, als wenn er das drei Stunden später macht, weil die Partie erst um halb vier angepfiffen würde. Ich würde jedenfalls nicht so weit gehen, der Deutschen Fußball Liga oder dem DFB eine Mitschuld zu geben, dass die Leute rund ums Spiel so viel trinken. Klar, bei den frühen Spielansetzungen geht es letztlich ums Geld, aber ich glaube, an die Randerscheinung, dass die Fans dadurch schon am Sonntagvormittag saufen, denken die Funktionäre und Fernsehleute gar nicht.

Der Fußball als Suchtantreiber, das münzen Sie nur auf sich persönlich?

Der Weg, den ich gegangen bin, das war ganz allein meine Kiste. Da kann der Fußball nichts dafür und nicht der Verein. Der sagte ja nicht: Du, trinke bitte mal vor dem Spiel drei Bier. Ich konnte mit dem Alkohol nicht umgehen, in Konzerten wie gesagt ja auch nicht. Die Erreichbarkeit von Alkohol ist doch überall und immer gegeben, nicht nur beim Fußball.

Sie haben eine Selbsthilfegruppe „Anpfiff – Fußball ohne Alkohol“ in Marzahn-Hellersdorf gegründet.

Ich war bei meiner zweiten Entgiftung in einer Klinik in Motzen, wo ich einen Dresden-Fan kennengelernt habe. Fußball verbindet ja immer irgendwie. Wir haben uns auch über die Trinkerei beim Fußball unterhalten und festgestellt, dass es unglaublich viele Selbsthilfegruppen gibt: welche nur für Frauen, nur für Männer, nur für Russischsprachige, aber keine für Sportfans. Die habe ich dann in Marzahn-Hellersdorf mit angeschoben, aber sie bestand bloß drei Monate, weil nur zwei, drei alkoholabhängige Fußballfans mitmachten, sehr schade. Meine Kumpels rieten mir, ich könne mich doch an Union wenden, aber irgendwie hatte ich da eine Scheu, weil ich dachte, die hätten beim Thema Bier auch ihre wirtschaftlichen Interessen mit dem Sponsor und so. Jedenfalls habe ich es sein lassen, aber vielleicht finden sich ja noch Interessenten für unsere „Anpfiff“-Gruppe, dann würden wir sie fortführen.

Auf Stadionbesuche zu verzichten kommt für Sie nicht infrage?

Nein. Ich hatte es mal überlegt, aber meine Union-Klamotten habe ich nie in die Ecke verbannt. Ich habe mich zu Hause allein gefreut, wenn die Mannschaft gewonnen hat, und ich habe mich allein geärgert bei Niederlagen. Heute bestehen meine Wochenenden wie früher aus Fußball und Konzerten, nachdem ich wieder einen festen Job habe. Für Konzertbesuche war vielleicht noch mehr Überwindung nötig, weil dort immer noch die gleichen Bands die gleiche Musik über Alkohol spielen. Und auf Konzerten wird deutlich mehr getrunken als im Stadion.

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