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Bibliotheken in BerlinFühl dich wie zu Hause

Sie wollen mehr sein als Büchersammelstellen. In modernen Bibliotheken soll sich die Stadtgesellschaft begegnen – zum Schnacken, Snacken und Zocken.

Hier gibt es mehr als Bücher: die Zentral- und Landesbibliothek Berlin Foto: Andreas Friedrichs/imago

Berlin taz | Die Ingeborg-Drewitz-Bibliothek residiert in einem Schloss. Trotzdem kann von öffentlichem Luxus keine Rede sein. „Das Schloss“ ist ein Einkaufszentrum im Ortsteil Steglitz. Weniger als 20 Jahre jung, soll hier vieles älter aussehen als es ist: Ein Brunnen mit marmorweißen Figuren, goldene Wandleuchter im Großformat und Bodenplatten aus Granit schmücken das Foyer. Hinter einer Tür im dritten Stock ist von dieser künstlich-königlichen Atmosphäre nichts mehr zu spüren: Die Decken sind tiefer, das Licht greller und den Boden ziert blaues Vinyl. Hier herrscht das typische Flair einer öffentlichen Einrichtung – willkommen in der Bücherei.

An einem Montagnachmittag streifen zwei Jungs mit schwingenden Schultern und abstehenden Ellenbogen zwischen den Bücherregalen umher, als sähen sie nach dem Rechten. Nach einem Slalom durch die bunten Kinderstühle lassen sie sich auf einer roten Couch aus Kunstleder nieder. Raus aus den schwarzen Pufferjacken, die Chipstüte auf den Schoß. Hände am Handy, Fingerfood, Tauchgang.

Dann ein Ruf in den Raum: „Djamal!“. Aus dem Dickicht der Bücher erscheinen zwei weitere Kerle; ähnliche schwarze Jacken, nur eine Nummer kleiner. Der gerufene Djamal reißt die Chipstüte an sich. Ihr Knistern verhallt im regen Treiben in der Bezirkszentralbibliothek. Volles Haus. Das mag verwundern, schließlich sind Bücher out und die Entleihungen von Printmedien seit Jahren rückläufig. Doch das ist die falsche Kennzahl, um die gesellschaftliche Bedeutung von Bibliotheken zu messen.

Orte der Begegnung sollen sie sein, außerhalb der eigenen vier Wände, neben Arbeit, Schule oder Uni. Der frühere Kultursenator Klaus Lederer (Linke) bezeichnete Bibliotheken gerne als „Wohnzimmer der Stadtgesellschaft“. Anders als an den meisten Begegnungsorten, wie etwa Cafés, kann man in einer Bibliothek Zeit verbringen, ohne Geld ausgeben zu müssen.

Bibliotheken sind öffentliche Räume

„Bibliotheken sind neben Parks die wahren öffentlichen Räume in unserer Gesellschaft“, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hicker einmal der Süddeutschen Zeitung. Städtische Parks sind an diesem grauen Tag für Djamal und seine Freunde allerdings nicht so attraktiv wie Wärme, W-Lan und Weltliteratur.

Inzwischen hängen die vier schwarzen Jacken über den Stühlen des Gaming-Bereichs. Zwei Jungs halten einen Controller in der Hand. Sie spielen Fußball auf der PlayStation. Während die Daumen routiniert klicken und kreisen, sprechen ihre Besitzer über Ablösesummen und Vereine. Djamal beteiligt sich nicht an dem Gespräch. Unter seiner weißen Baseballcap glänzen schwarze Locken. 14 Jahre ist er alt und geht in die siebte Klasse. Gerade in der kalten Jahreszeit treffe er seine Freunde mal hier, mal im Saturn, denn dort könne man auch zocken. Djamal ist lieber in der Bibliothek: „Ich mag, dass es hier einigermaßen ruhig ist, viel ruhiger als Zuhause mit einer Großfamilie.“ So ungestört wie in der Ingeborg-Drewitz-Bibliothek können die Jungs nirgendwo chillen, über ihre Social-Media-Feeds sprechen oder eben FIFA spielen.

Vor sieben Jahren sei er nach Deutschland gekommen, erzählt Djamal. Büchereien kannte er lange nicht. Eine Betreuerin seiner Jugendzirkusgruppe war es, die ihm den ersten Bibliotheksausweis besorgte. Er kennt sich aus in den Bibliotheken des Berliner Südens; seine Familie ist schon mehrmals umgezogen. Die Ingeborg-Drewitz-Bibliothek ist die beste, findet er: „Eigentlich ist hier alles perfekt!“

Manchmal schaue er kurz vorbei, um sich neue Spiele auszuleihen. Oder er nimmt an einem der FIFA-Turniere teil, die bisweilen auf der Flipchart neben dem Fernseher ausgeschrieben werden. Es komme aber auch vor, dass ihn die Langeweile hertreibt – irgendjemanden treffe er meistens: „Alle kennen die Bibliothek: meine Freunde, meine Geschwister und die Geschwister meiner Freunde.“

Einen Gaming-Bereich gibt es auch in der KiJuBi

Einen Gaming-Bereich gibt es auch in der KiJuBi – der Kinder- und Jugendbibliothek der Zentralen Landesbibliothek Berlin (ZLB) in Kreuzberg. Hier stehen keine Sessel vor dem Fernseher, sondern ein schwarzes Sofa. Benjamin Scheffler setzt sich. Es ist der einzige freie Platz an diesem Dienstagnachmittag. Der Mann mit den kurzen grauen Haaren, blauer Karree-Brille und leichtem Schal leitet das Team der KiJuBi. Er schaut sich um. Links arbeitet eine Dreiergruppe an einer PowerPoint-Präsentation über Künstliche Intelligenz.

„Fast alle besitzen heutzutage ein Handy“, sagt Scheffler. „Aber viele haben keinen Zugang zu einem richtigen Computer oder einem Drucker.“ Er spricht mit heller Stimme und in vorbildlicher Bibliotheks-Lautstärke: nur zu verstehen, wenn man direkt neben ihm sitzt.

Nach eigenen Angaben ist die KiJuBi die größte Kinder- und Jugendbibliothek Deutschlands. 130.000 Medien gibt es hier – und ganze acht Arbeitsplätze mit Rechnern. „Wir brauchen viel, viel mehr Gruppenarbeitsplätze“, klagt Scheffler. Generell mangele es an Platz: Die KiJuBi verteilt sich auf eine Fläche von 400 Quadratmetern. Das ist deutlich weniger als der Strafraum eines Fußballfeldes – und sei gerade einmal ein Fünftel dessen, was sie nach aktuellen planerischen Grundsätzen als zeitgemäße Bibliothek benötige.

Und wie so oft ist die KiJuBi mehr Kinder- als Jugendbibliothek. Wenn man aus dem Kinderbereich herauswächst, haben Büchereien nur noch wenig zu bieten. „Jugendliche haben keine große Lobby“, sagt Scheffler. Sie versuchen es hier anders zu machen, planen etwa einen eigenen Bereich für die über 16-Jährigen. „Wir wollen für alle da sein, nicht nur für die, die zum Lesen herkommen und angepasst sind“.

Viel Arbeit fließt in ein eigenes Programm für Jugendliche

Viel Arbeit fließe deshalb in ein eigenes Programm für Jugendliche. Jeden Montag finde ein Berufscoaching statt, das gut angenommen werde. Doch das Team von Benjamin Scheffler stößt schnell an seine Grenzen: „Gerade machen wir einmal pro Monat einen Gaming-Freitag, da kommen dann 30 bis 40 Leute. Hätten wie mehr Platz, könnte das viel häufiger passieren.“

Am Samstagnachmittag verwandelt sich die Sitzecke der KiJuBi in ein Zwergenkönigreich: Humanoide Echsenwesen haben die Bewohner der Goldmine überfallen. Nun liegt es an den Abenteurern zu helfen. Die Abenteuer, das sind zehn Mädchen und Jungen, die meisten zwischen 12 und 13 Jahren alt. Dort, wo normalerweise ein paar Sofas stehen, hat Eric mehrere Tische zusammengeschoben, um die die Jugendlichen nun sitzen. Er ist einer der Spielleiter der wöchentlichen Dungeons & Dragons Runde in der KiJuBi, einem Tischrollenspiel, bei dem die Spielenden sich in eine Fantasiewelt begeben – ausgestattet nur mit Stift und Papier.

„Der Kampf ist vorbei, die Wunden geleckt, der Zwergenanführer Xikek kommt auf die Abenteurer zu, und bittet um Hilfe“, erklärt Eric die Mission für den heutigen Nachmittag. Bevor es losgehen kann, müssen noch die beiden Neuen in die Runde eingeführt werden. Ein 20-seitiger Würfel bestimmt ihren Charakter. Seefahrer wird der eine; Töpfer der andere, merklich zufrieden mit seiner Rolle. Am Eingang des Minenschachtes finden die Abenteurer eine alte Bergbaumaschine. Sie ist kaputt. Dann taucht ein mysteriöser Fleck an einer Wand auf. Was es damit wohl auf sich hat?

Um 18 Uhr ist das Gesicht von Spielleiter Eric gerötet. Vier Stunden lang hat er Geschichten erzählt, das Regelwerk ausgelegt und Fragen beantwortet – und musste dabei ständig improvisieren. Für den 30-jährigen Studenten geht es um mehr als Spaß am Spiel. Er möchte diese besondere Art des gemeinschaftlichen Spiels an die nächste Generation weitergeben, sagt er. Die Bibliothek sei dafür ein guter Ort: hier ist die Gruppe sichtbar für jeden, der vorbeiläuft, noch dazu ist das Angebot niedrigschwellig. „Interessierte neue Spieler können einfach zu uns kommen und direkt einsteigen, auch ohne Anmeldung.“ Ein echtes öffentliches Wohnzimmer eben.

Benjamin Scheffler wünscht sich schon seit langem, dass dieses Wohnzimmer wächst. „In meinen 17 Jahren an der ZLB habe ich schon drei Raumgestaltungspläne für den Papierkorb gemacht.“ Humboldt Forum, Tempelhofer Feld, Erweiterungsbau: Immer wieder wurde der Bibliotheksverwaltung Hoffnung auf mehr Platz gemacht. So auch im vergangenen Sommer, als Kultursenator Joe Chialo (CDU) einen neuen Standort für die ZLB vorschlug: das Quartier 207 an der Friedrichstraße, aus dem die Galeries Lafayette demnächst ausziehen wird. Doch auch das wird wohl ein Wunschtraum bleiben – der Senat hat keine Gelder dafür vorgesehen. So etwas kann Scheffler nicht nachvollziehen: „In eine Bibliothek zu investieren heißt, in die Zukunft investieren.“

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4 Kommentare

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  • Danke für den schönen Artikel.



    Props gehen raus an die Amerika-Gedenk-Bibliothek, mein Wohnzimmer in den Jahren, als ich keine Wohnung hatte...



    Stöbern, lesen und ausleihen, Heizung und viele inspirierende Gespräche hat mir der Ort beschert... Und nicht zu vergessen, für die Wohnungslosen und Prekären dieser Stadt - vernünftige Rechner mit Internetanschluss, um mal zu drucken, Mails zu checken oder auch mal nen YoutubegVideo zu gucken... Oder TAZ lesen ;)

  • Es wäre schön, wenn die Kinder in einer Bibliothek nicht nur Videospiele spielen würde (wie bei Saturn), sondern auch tatsächlich Bücher lesen würden. Die moderne Bibliothek klingt für mich wie ein staatlich organisiertes und finanziertes Spielhaus anstelle eines Orts des Lesens

    • @eicke81:

      Videospiele sind genauso Kulturträger wie Bücher. Wenn wir mit dem herablassend erhobenen Zeigefinger einer einer selbsternannten Hochkultur kommen, dann machen wir die Bibiliothekem wenn überhaupt zu Orten nur für Kinder der privilegierten Bildungsbürgerblase. Damit haben sie aber keine gesellschaftlich relevante Funktion mehr.

      • @Ruediger:

        Sehe ich auch so, gut gekontert. Und zockende Kids sind wahrscheinlich immer noch besser als kriminelle oder saufende Kids ;)