Betteln im Bahnhof: „Geh doch arbeiten“
Eine Hamburger Amtsrichterin verurteilte einen Obdachlosen, weil er wiederholt im Hauptbahnhof schlief. Manche Bahn-Kund:innen begrüßen das.
D ie Frau hat nur darauf gewartet, dass er sie anspricht in seinem weinerlich-unterwürfigen Tonfall, wie ihn nur Junkies drauf haben. „Darf ich Sie etwas fragen, bitte?“ Diese Frage hatte er gerade jemand anderem auf dem Bahnsteig gestellt, direkt vor der Bank, auf der die Frau und ich auf unseren Zug im Bremer Hauptbahnhof warten.
Sie ist vielleicht 70, klein, mit rot gefärbten Haaren und sie lauert auf die nächste Frage, damit sie ihm ihre Antwort entgegengiften kann. „Ja, fragen Sie nur“, antwortet sie ausgesucht höflich. „Hätten Sie vielleicht etwas Kleingeld für mich“, sagt er und schiebt noch ein paar Sätze hinterher, die in einer Minute erklären sollen, wie er in diese missliche Lage geraten ist und warum er sich natürlich nur etwas zu Essen kaufen werde.
Er hat noch nicht zu Ende gesprochen, da faucht sie ihn schon an: „Gehen Sie arbeiten! Da unten …“ – sie gestikuliert in Richtung Treppe, die hinunter führt zu Geschäften und Fressbuden – „… gibt es lauter Jobs, die suchen alle, es gab noch nie so viele offene Stellen!“
Mir platzt augenblicklich der Kragen und jetzt bin ich diejenige, die keift: „Nicht alle können arbeiten, manche sind psychisch krank!“, schleudere ich ihr entgegen, woraufhin sie mich anpampt, sie habe trotz Schwerbehinderung 45 Jahre gearbeitet. „Na, wenn es Ihnen gut getan hat, ist das ja schön für Sie“, sage ich und referiere zu den Folgen von in der Kindheit erlebtem sexuellen Missbrauch und anderer Gewalt. „Ach, hören Sie auf“, sagt sie und macht eine abfällige Geste mit der Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. Sie muss aber noch etwas loswerden: „Überall wird man angebettelt“, sagt sie, und jetzt klingt sie weinerlich.
Ich bin leider viel zu wütend, um ihr zu erklären, dass der Bettler genauso Opfer dieses Schweinesystems ist wie sie und sie ihre Wut lieber gegen diejenigen richten sollte, die dafür verantwortlich sind, dass so viele Menschen unter die Räder geraten und sie mit Schwerbehinderung arbeiten muss.
Allerdings hätte ich ihr nicht erklären können, wen ich damit meine, weil „die da oben“ zwar nicht ganz falsch ist, aber auch nicht ganz richtig, und sie würde damit wahrscheinlich Politiker:innen meinen und alle, die nach ihrer Vorstellung mit ihnen in einem Boot sitzen, also Journalist:innen wie mich und andere vermeintliche Angehörige einer Elite, während ich vage an Produktionsmittelbesitzer:innen denke. Also steige ich in den Zug und ärgere mich darüber, die Gelegenheit verpasst zu haben, einen Menschen zum Nach- oder sogar Umdenken zu bringen.
Der Junkie hat sich in der Zwischenzeit verkrümelt und kommt jetzt noch einmal zu mir, um sich zu bedanken, was ich gar nicht will, weil ich bei allem Verständnis Männer wie ihn meide, wegen ihres Geruchs, ihrer latenten Aggressivität und vor allem, weil sie mich daran erinnern, dass ich die himmelschreienden Ungerechtigkeiten längst akzeptiert habe, anstatt auf der Stelle die Weltrevolution auszurufen.
Verurteilt wegen Schlafens
Wenige Tage später lese ich in der Süddeutschen Zeitung, dass eine Hamburger Amtsrichterin einen 32-jährigen Obdachlosen zu einer Geldstrafe verurteilt hat, weil er im Hamburger Hauptbahnhof gebettelt und geschlafen hat. Der Autor zitiert aus dem Urteil die Lebensgeschichte des Mannes. Alkohol- und drogenabhängiger Vater, der das Kind verprügelte, schwere Verhaltensstörungen, abgeschoben in ein Heim für „schwer Erziehbare“, eigene Alkoholabhängigkeit schon als Minderjähriger, Drogen, suizidal.
Die Live-Vorführung solcher Lebensgeschichten möchte die Deutsche Bahn denen ersparen, die im Hamburger Hauptbahnhof nicht überleben, sondern zum Shoppen dort sind oder zum Zugfahren, und zeigt die Obdachlosen deshalb an. Dabei hat nun ausgerechnet der stets überfüllte Hamburger Hauptbahnhof größere Probleme – und wenn ich noch einmal mit Kindern und/oder Fahrrädern dort umsteigen muss, zeige ich hinterher die Bahn an, wegen fahrlässiger Körperverletzung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin