die stimme der kritik: Betr.: „Big Brother“ – das Allerletzte
Kollusives Liebesdreieck (Paranoia total II)
Unsere sichere Prognose ist geplatzt: John hat gewonnen, nicht Jürgen. Peinlich – wir haben einfach nicht an uns geglaubt. Da ist es immerin tröstlich, dass es unsere Zeitung war, die am letzten der 100 Tage mit einer grandiosen Wahlkampagne dem berlinernden Öko-Freak mit alternativem Lebenslauf die nötigen Prozente verschaffte, um den schleimigen Kölner Angeber Jürgen noch vor dem Ziel abzufangen.
Viel wichtiger aber ist: Das niederträchtige Kalkül des Senders ist nicht aufgegangen! Denn für RTL 2 hatte der Sieger doch bereits festgestanden, weil ein zweiter Platz für Jürgen das ganze Vermarktungskonzept durcheinanderbringt, in dem für John eigentlich kein Platz ist. RTL 2 war zudem nicht müde geworden, sein eigenes tolles Projekt zu verraten und das authentische Zusammenleben der Bewohner durch manipulative Eingriffe zu verfälschen. Selbst die FAZ hatte am Ende herausgefunden, dass „alles geplant“ war und das geheime Regelwerk den Leuten im Container „noch die kleinste Regung ... vorgeschrieben“ hatte.
Und jetzt: der falsche Sieger. Was ist da schief gelaufen? Gerne würden wir vermuten, dass unter der suggestiven Wirkung unseres Aufrufs die anrufenden Zuschauer die mediale Strategie durchschaut und den Verrat geahndet haben – und mit unserer Hilfe die großartige Idee zurückerobert hätten. Im real life des Wohncontainers hätten sie den umgänglichen John als Helden ihres Alltags erkannt und zum König des wirklich Authentischen ernannt – ein Akt der Emanzipation vom manipulativen Einfluss des Mediums. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es sich bei unserem Totalverdacht (und der falschen Prognose, die ihm folgte) um den medientheoretischen Rest einer Stamokap-Theorie handelt, der der postmodernen Zukunft des interaktiven Fernsehens nicht gerecht wird. Bei „Big Brother“ hätte demnach kein allmächtiges Medium seine finsteren Interessen verfolgt und sowohl Teilnehmer als auch Zuschauer zu manipulieren versucht. Vielmehr könnte man von einem Zusammenspiel des Begehrens reden, von einem kollusiven Liebesdreieck, in dem kommerzielles Interesse des Senders, narzisstische Bedürftigkeit der Bewohner und Identifikationswünsche der Zuschauer auf wunderbare Weise zusammenflossen. MARTIN ALTMEYER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen