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■ Beschneidungen: Es gibt viele Gründe, warum Säuglingen, Jungen oder Männern die Penisvorhaut abgeschnitten wird – religiöse, medizinische, hygienische oder sexuelle. Aber muß diese Prozedur sein? Von Andreas HergethNur ein harmloser Schnitt?

Mit oder ohne „Präputium“? Braucht der Mann seine Penisvorhaut wirklich? Die Organisation Terre des Femmes kritisiert die Beschneidung am Penis des Mannes als unnötig und barbarisch.

Der erste beschnittene Mann war Abraham. Gleich ihm fehlen jüdischen, muslimischen, vielen afrikanischen, den meisten amerikanischen und immer mehr europäischen Männern rund 22 bis 28 Quadratzentimeter Haut: die Vorhaut.

In Deutschland ist die Beschneidung Bestandteil der medizinischen Ausbildung. „Ein einfacher, schnell zu erlernender Handgriff“, wie Ingolf Türk sagt. Er muß es wissen. Der Oberarzt an der Urologischen Abteilung der Berliner Charité führt drei dieser kleinen Operationen pro Woche durch. Meist bei Jungen mit einer Phimose, einer Vorhautverengung. An zweiter Stelle kommen ältere Männer, die wegen kleiner Verletzungen ihrer Vorhaut Vernarbungen derselben davontrugen. Diese Vernarbungen – oft kommen chronische Infektionen hinzu – führen dazu, daß die Betroffenen das flexible Stück Haut nicht mehr über ihre Eichel streifen können. Rund acht bis zehn Prozent der erwachsenen deutschen Männer sind von diesem peinlichen Leiden betroffen. Den zahlenmäßig geringsten Teil der Charité-Patienten machen Jugendliche und Männer bis 40 Jahre aus, die eine medizinisch notwendige Beschneidung verzögerten. Warum, kann nur gemutmaßt werden: Unwissen, sagen die Mediziner. Vielleicht hat die Angst vor dem Beschnitt auch damit zu tun, daß bis weit über die NS-Zeit hinaus die Zirkumzision als jüdisch und damit undeutsch galt: Der Arier ließ es lieber schmerzen – und riechen.

Nur vereinzelt kommen Männer in die Charité, die sich aus Dekorationsgründen beschneiden lassen wollen. Ein Trend zu dieser kosmetischen Prozedur läßt sich indes nur schwer quantifizieren. Ein Grund dafür könnte sein, daß die Operationen oft ambulant durchgeführt werden. Das hat den Vorteil, daß der Patient schon wenige Stunden später zu Hause ist. Im Krankenhaus bleibt der Erwachsene über Nacht, Kinder zwei Tage.

Wie fühlt ein beschnittener erwachsener Mann danach? Anders als zuvor, so viel ist gewiß: Die Eichel, von der Vorhaut geschützt, ist dann hochreizbar. Die freiliegende Eichel ist nun allein schon durch den Stoff der Unterwäsche ungewünschten Reibungen ausgesetzt. Die Reizschwelle singt aber nach kurzer Zeit – so daß Beschnittene langsamer zum Orgasmus kommen. Männern, die am vorzeitigen Samenerguß leiden, ist mit diesem Eingriff schon geholfen worden.

Aber auch viele Schwule schätzen den späten Schnitt am entscheidenden Objekt. Mann kann dann ganz lange. Und der Penis ohne Vorhaut scheint größer auszusehen. Andererseits sehnt sich der schwule Mann immer nach dem, was er selbst nicht hat. Beispiel USA: Zwischen 70 und 80 Prozent der erwachsenen Männer leben ohne Vorhaut. Wen wundert, daß dort Männer „mit“ – uncut – begehrt sind.

Medizinische Gründe müssen ebenso für Beschneidungen herhalten. Ob sie berechtigt sind, ist umstritten. Eine generelle Empfehlung will der Urologe Ingolf Türk nicht geben: Die Vorhaut bildet quasi eine Höhle, die durch den letzten Urintropfen beim Pinkeln ein feuchtes Milieu bietet, in dem sich Pilze oder Bakterien wohl fühlen. Die Krankheitskeime können zu Infektionen führen, die im Zusammenspiel mit Schmutz und Smegma (von den Vorhautdrüsen produzierter Gleitstoff vor dem Samenerguß) unter anderem eine Ursache für Peniskrebs bilden können.

Ratsam ist es auf alle Fälle, all das, was sich unter der Vorhaut ansammeln kann, wegzuduschen, denn regelmäßige Hygiene vermindert das Risiko von Erkrankungen. In Kulturkreisen, in denen die Männer beschnitten sind, sind Erkrankungen an männlichem Genitalkrebs sehr viel seltener diagnostiziert worden.

Seit Abraham gilt den Juden die Männerbeschneidung als Zeichen ihres Bundes mit ihrem patriarchalen Gott. In Wahrheit ist die Beschneidung eine bevölkerungspolitische Maßnahme, um Zeugungsunfähigkeit durch das – seltene – Zuwachsen der Vorhaut radikal zu verhindern. Neben diesem religiösen Aspekt gilt die Männerbeschneidung auch als Reinigungsritual. Auffällig: In Gegenden, in denen die Penisbeschneidung seit Jahrtausenden praktiziert wird, herrscht oft Wassermangel.

Die so erschwerte regelmäßige Reinigung des Körpers und insbesondere des Genitals ließ vermutlich Stammesführer wie Abraham den Schritt zum Schnitt wählen. Die jüdische Religion schreibt diese Operation schon für die ersten Tage nach der Geburt vor – und ein Rabbi muß dabeisein. Deshalb finden die Beschneidungen meist in der Synagoge statt. Der rituelle Beschneider, Mohel genannt, entfernt beim acht Tage alten Säugling ohne Betäubung die gesamte Vorhaut.

Reuven Unger ist ein Mohel. Der 61jährige kann auf 44 Jahre Erfahrungen zurückblicken, hat bisher rund 2.200 Beschneidungen durchgeführt, pro Jahr etwa 50. Der in Augsburg lebende Mohel geht seiner Arbeit in ganz Deutschland nach: „Zu 99,9 Prozent geht bei der Operation alles gut.“ Die genauso ausgeführt wird wie im Krankenhaus. Dabei wird mit der Vorhaut auch das Frenulum vom Glied getrennt – eine Hautfalte, ein Bändchen, das die Vorhaut mit dem Glied verbindet. Dort sitzt auch die Drüse, die das Smegma produziert. Dieser sensibelste Teil des Penis entspricht der Klitoris der Frau.

Verstümmelung? Mohel Unger mag davon nichts hören: „Die Beschneidung ist wesentliches Element unserer Religion, wurde unserem Volk von Gott verordnet. Das allein ist Grund genug.“

Die Muslime warten dagegen mit dem Eingriff, bis die Kinder vier oder fünf, manchmal zehn Jahre alt sind, also an der Schwelle zur Herausbildung religiösen Bewußtseins. Am Tag der Beschneidung gibt es ein großes Fest. Berliner Türken zum Beispiel begehen die Zeremonie oft im Kreise von Hunderten Gästen. Der betroffene kleine Junge thront wie ein Fürst in einem kunstvollen Kostüm, empfängt Glückwünsche und Geschenke: Der Junge wird mit dem Schnitt zum „richtigen Mann“. Denn das wird er erst, „wenn er beschnitten ist“, wie es im türkischen Volksmund heißt. Allein in Berlin finden jedes Jahr rund tausend Sünnet Dügünü – Beschneidungsfeste – statt.

Der Beschneider Akif Özcan kommt schnell zur Sache. Nach einer örtlichen Betäubung legt der Sünnetci sein Elektromesser an die Vorhaut des Jungen an, führt den Schnitt schnell aus. Nähen, salben, verbinden – nach einer Woche kann das Kind wieder toben. Der 58jährige hat es in seiner 36jährigen Karriere auf über 3.000 Beschneidungen gebracht.

Über Probleme nach diesen Beschneidungen sind kaum Belege zu finden. Berna Köksal vom Berliner „Akarsu“, einem Gesundheitszentrum für Frauen, weiß aber davon zu berichten, daß es gelegentlich zu Komplikationen kommt. „Aber nur noch die traditionellen Türken holen den Beschneider zum Fest“, unterstreicht sie, „die meisten Türken bringen ihre Jungen inzwischen ins Krankenhaus.“ Dem widerspricht ein Vertreter der Berliner Gesellschaft Türkischer Mediziner. „Das Krankenhaus ist in Mode gekommen, aber größtenteils wird noch immer der Arzt oder der Sünnetci zum Fest geholt.“

Wie genau der rituelle Beschneider arbeitet, läßt sich statistisch nicht belegen. Fakt ist, daß es bei der Beschneidung auch zum Abtrennen des Frenulums kommen kann. Wird die OP beim türkischen Arzt durchgeführt, passiert dies nicht, wie der Berliner Chirurg Ismail Tuncay versichert: „Das Frenulum bleibt dran, auch wenn sonst die ganze Vorhaut abgetrennt wird.“

Die vehementeste Kritik an der Beschneidung übt Petra Schnüll von der Menschenrechtsorganisation Terres des Femmes. Die „Absurdität“ macht sie am Beispiel USA fest. Hier wird meist aus medizinischen Gründen beschnitten. Die übertriebene Furcht vor Peniskrebs sei Ursache für diesen Boom. Mitte der Sechziger wurden rund 90 Prozent der Neugeborenen beschnitten, heute sind es noch rund 60 Prozent. „Die Babies werden ohne Betäubung beschnitten, überall auf der Welt. Sie werden nicht gefragt, ob sie wollen. Ihnen wird Schmerz zugefügt. Bei Kindern ist die Vorhaut noch partiell mit der Eichel verwachsen, ein natürlicher Schutz gegen Verschmutzung. Beim Durchtrennen entstehen Narben, die später einen enormen Sensitivitätsverlust von bis zu 40 Prozent verursachen.“

Zumal in den USA die Vorhaut samt Frenulum abgetrennt wird. So reicht später bei Erektionen die Vorhaut nicht mehr aus, um einen schmerzfreien Lustgewinn zu ermöglichen: Risse und Narben unterhalb der Eichel machen aus dem Sex eine Tortur. Andere Folgen können Infektionen, Inkontinenz, Impotenz sein. Einer Studie der US-Universität Seattle zufolge sterben jährlich drei Babies an den Folgen des Eingriffs. Für Petra Schnüll ist klar: „Beschneidungen, ob bei Mädchen oder Jungen, sind unnötig und barbarisch.“

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