Beschluss nach Vorkaufsrecht-Urteil: Mietenschutz auf der Kippe

Erstmals erlaubt ein Gericht einer Hauseigentümerin, eine Abwendungsvereinbarung zu kündigen, die Mie­te­r:in­nen vor Verdrängung schützen soll.

Protest am Dienstag den 7.Juli 2020 vor dem Roten Rathaus in Berlin gegen den geplanten Verkauf von 23 Haeusern an den Wohnungskonzern Deutsche Wohnen. Aktivisten stehen auf einem großen Monopoly-Feld.

Im Gericht und im Brettspiel gilt: Wer viel besitzt, gewinnt Foto: Christian-Ditsch.de

BERLIN taz | Der Schutz für Mie­te­rIn­nen in Berlin ist möglicherweise durch ein weiteres Gerichtsurteil geschwächt worden. Laut einem am Freitag öffentlich gewordenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vom September darf die Eigentümerin der Jonas­straße 24 in Neukölln, die das Wohnhaus erst 2019 erworben hat, die Abwendungsvereinbarung kündigen, die die Mie­te­rIn­nen bis dahin zum Beispiel vor Kündigungen wegen Eigenbedarfs schützte. Zuerst hatte der Tagesspiegel eine entsprechende Meldung der Immobilien-Zeitung über den noch nicht rechtskräftigen Beschluss aufgegriffen.

Erstmals hat mit dem Beschluss ein Gericht über eine Abwendungsvereinbarung entschieden, die im Zuge des im November 2021 gekippten bezirklichen Vorkaufsrechts zustandegekommen war. Das Vorkaufsrecht erlaubte es Kommunen in sogenannten Milieuschutzgebieten, zum Verkauf stehenden Wohnraum vor der Nase von In­ves­to­rIn­nen wegzuschnappen und die BewohnerInnen so vor Verdrängung zu schützen. Verhindern konnte der Käufer dies nur durch eine Abwendungsvereinbarung, die ihn für längere Zeiträume zur Einhaltung sozialer Standards verpflichtete.

Im November vergangenen Jahres kippte das Bundesverwaltungsgericht diese Praxis fast vollständig. Bisher gingen Mie­te­rIn­nen­an­wäl­te dennoch davon aus, dass die bereits abgeschlossenen Abwendungsvereinbarungen rechtssicher sind.

Das stellt der Gerichtsbeschluss nun infrage – potenziell sind alle 9.300 Wohnungen, die über eine Abwendungsvereinbarung gesichert wurden, bedroht. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung betont allerdings, es handele sich um ein Einzelfallurteil. Sie hat Beschwerde gegen den Beschluss eingereicht, über den das Oberverwaltungsgericht entscheiden wird.

Vereinbarung grundsätzlich nicht nichtig

Zunächst erklärt das Gericht in dem der taz vorliegenden Beschluss, das Kippen des Vorkaufsrechts bedeute keineswegs, dass die beschlossene Abwendungsvereinbarung nichtig ist. Das Gericht interpretiert diese als sogenannten Vergleichsvertrag. In einem solchen legen zwei Vertragsparteien einen Rechtsstreit beiseite, indem sie gegenseitige Zugeständnisse machen – dieser Kompromiss gilt grundsätzlich auch dann, wenn er leicht vom geltenden Recht abweicht.

Das Gericht ist allerdings auch der Auffassung, dass sich die Rechtslage seit dem Kippen des Vorkaufsrechts „so wesentlich geändert“ hat, dass „nicht anzunehmen ist, dass die Antragsgegnerin (die Eigentümerin, Anm. d. Red.) die Abwendungsvereinbarung geschlossen hätte“, wäre die aktuelle Rechtslage damals bekannt gewesen. Im Klartext: Das Gericht geht nicht davon aus, dass sich die Eigentümerin freiwillig an die sozialverpflichtenden Standards gehalten hätte. Daraus leitet es ein Kündigungsrecht für die Abwendungsvereinbarung ab.

In der Immobilienwirtschaft wird der Beschluss bereits als das Ende aller nervigen Sozialverpflichtungen gefeiert. Im Tagesspiegel erklärte Immobilienanwalt Mathias Hellriegel, „alle“ Abwendungsvereinbarung seien nun „hinfällig“. Seine Kanzlei allein vertrete über 50 Fälle, in denen die Verträge bereits gekündigt wurden. Nachprüfbar ist das nicht.

Tatsächlich sind sich Ju­ris­tIn­nen keineswegs sicher, dass der Beschluss derart drastische Konsequenzen hat. Denn das Gericht begründete seinen Beschluss mit Einzelheiten zum Verhandlungsablauf in diesem konkreten Fall. Auch die Verwaltung für Stadtentwicklung ist sich sicher, dass daraus „nicht die Kündbarkeit sämtlicher Abwendungsvereinbarungen“ folgt.

FDP blockiert im Bund

Über den Folgen des Beschlusses stehen also noch viele Fragezeichen, die erst durch das Urteil des Oberverwaltungsgericht aufgeklärt werden können. Katrin Schmidberger, mietenpolitische Sprecherin der Grünen, sprach gegenüber der taz dennoch von einer „verheerenden Situation“. Auch wenn der Beschluss nur einen Einzelfall behandle, sei die Gefahr real, dass Ver­mie­te­rIn­nen nun eine Welle von Kündigungen der Abwendungsvereinbarungen lostreten.

Berlin müsse sich juristisch wehren. Gleichzeitig sollten sich die Bezirke mit den Eigentümern zusammensetzen und neue Vereinbarungen treffen. „Wir müssen alles in unserer Macht stehende tun, um Betroffene zu unterstützen“, so Schmidberger.

Sofort helfen könnte der Bund. Dort plant man schon länger, den Kommunen das gekippte Vorkaufsrecht zurückzugeben – doch die FDP und ihr Justizminister Marco Buschmann blockieren. Schmidbergers Hoffnung liegt in dieser Situation auf der SPD, die auf Bundes- und Landesebene das Vorkaufsrecht unterstützt. „Wenn die SPD auf Bundesebene ein Machtwort beim Thema Atomkraft sprechen kann, dann sollte es doch auch möglich sein, das beim Mie­te­rIn­nen­schutz zu tun“, findet Schmidberger.

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