Berlins neue Sozialsenatorin: „Wir müssen Armut eingrenzen“
Die Linke Elke Breitenbach ist seit Donnerstag Senatorin für Arbeit, Soziales und Integration – und hat da einiges vor.
taz: Frau Breitenbach, wie ist es, nach so vielen Jahren als Abgeordnete selbst an der Macht zu sein?
Elke Breitenbach: Das kann ich nicht sagen, ich fange ja gerade erst an.
Dass Sie Senatorin für Soziales, Arbeit und Integration werden, wissen Sie seit drei Wochen. Wie ging es Ihnen nach der Entscheidung?
Gedanken habe ich mir schon vorher gemacht. Denn so eine Aufgabe ist doch eine ziemliche Umstellung im Leben. Als es dann feststand, habe ich die Zeit bis zur Ernennung genutzt und viele Gespräche geführt, weil mit dem neuen Ressortzuschnitt der Verwaltung ja einiges auseinandergenommen und neu zusammengeführt wird. Es ist im Moment ja auch viel in der Zeitung zu lesen. Zum Beispiel von weiteren Problemen bei der Flüchtlingsunterbringung, für die ich ja nun verantwortlich bin.
Lesen Sie das mit anderen Augen, weil Sie jetzt den Karren aus dem Dreck ziehen müssen?
Ich habe jetzt die Chance, daran zu arbeiten, dass sich Dinge anders entwickeln. Das ist für mich erst mal etwas sehr Positives. Da freue ich mich drauf.
Sie haben früher als Referentin im Bundestag und im Senat gearbeitet und saßen dann lange im Abgeordnetenhaus. Warum sind Sie in die Politik gegangen?
Weil ich eine gerechtere Gesellschaft möchte. Weil die Spaltung in Arm und Reich gestoppt werden muss. Da haben wir auf Landesebene zwar nur eingeschränkte Möglichkeiten, etwas zu machen. Aber es gibt Spielräume, und die will ich nutzen.
Zum Beispiel?
Wir können die Hartz-IV-Regelsätze nicht verändern. Aber wir haben uns in den Koalitionsverhandlungen darauf verständigt, dass die Richtwerte für die Miete, die das Amt für Empfänger von Transferleistungen zahlt, höher als bisher sein sollen. Das können wir machen, und das nimmt einer ganzen Reihe von Leuten die Angst, aus ihrer Wohnung ausziehen zu müssen. Ein anderes großes Problem in Berlin ist die Obdachlosigkeit. Wir brauchen mehr Unterkünfte für obdachlose Frauen, für Familien mit Kindern. Wir müssen die Armut in dieser Stadt eingrenzen, da können wir etwas ändern.
Ein klassisch linkes Anliegen. Seit wann ticken Sie so? Gab es bei Ihrer Politisierung einen Schlüsselmoment?
Nein, das war eher eine Entwicklung. Ich habe mich schon in der Schule engagiert als Klassen- und Schulsprecherin. Ich habe auch ganz viel Antifa-Arbeit gemacht. Das ist ein Thema, das mir noch heute sehr wichtig ist. Ich war später Gewerkschaftssekretärin, habe viel mit Ungerechtigkeiten in der Erwerbsarbeit zu tun gehabt.
Sie sind in der Nähe von Frankfurt am Main aufgewachsen. In Ihrem Lebenslauf steht, dass Sie von der Realschule auf die Hauptschule gewechselt sind. Was war da los?
Ich bin in der sechsten Klasse von der Realschule geflogen, mit drei Fünfen, in Englisch, Mathe und in einer der Naturwissenschaften. Ich war keine gute Schülerin.
Schlechte Noten als Rebellion?
Nein, Schule hat mir einfach keinen Spaß gemacht. Das war für mich keine Rebellion. Meine Eltern haben das aber, glaube ich, anders gesehen. Sie hatten einen Handwerksbetrieb. Es war ihnen sehr wichtig, dass ihre Tochter eine gute Schülerin ist.
Der Mensch: 55, geboren in Frankfurt am Main, kam sie 1981 zum Politikstudium nach Berlin. Sie war Gewerkschaftssekretärin, arbeitete an der Gedenkstätte Sachsenhausen und von 2002 bis 2003 als Referentin der damaligen Senatorin für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz Heidi Knake-Werner. Seit 2003 ist Breitenbach im Abgeordnetenhaus, ihre Fachgebiete sind Arbeit, Soziales und Inklusion.
Der Job: Als Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales wird Breitenbach etwa für die Berliner Jobcenter und Maßnahmen für Beschäftigungsförderung zuständig sein. Zu ihrem Haus gehören der Integrations- und die Antidiskriminierungsbeauftragte Berlins. Neu übernimmt ihre Verwaltung mit dem Bereich Soziales auch die Verantwortung für die Unterbringung und Versorgung Geflüchteter in Berlin. (akw)
In Ihrer Freizeit waren Sie Dressurreiterin. Ein Ausgleich zur Schule?
Reiten war mir wichtiger als Schule, dabei hatte ich auch Erfolge. Ich habe dann den Hauptschulabschluss gemacht und bin auf die Berufsfachschule gegangen, ich wollte Kinderpflegerin lernen. Dabei habe ich auch die Mittlere Reife bekommen. Drei Wochen vor dem Ende der Ausbildung habe ich allerdings gesagt: Ich gehe nicht mehr in den Kindergarten.
Warum?
Ich hatte plötzlich diese Wahnvorstellung: Jetzt muss ich bis zu meinem 65. Lebensjahr im Kindergarten sitzen! Das fand ich sehr beunruhigend. Ich bin einfach nicht mehr hingegangen, konnte mit der Mittleren Reife aber auf die gymnasiale Oberstufe. Das war dann die erste Schule, die ich gut fand. Ich machte mein Abi und fing an zu studieren.
Diese Umwege bis zum Studium – haben die Sie geprägt?
Ja. Ich habe das Schulsystem sehr genau kennengelernt. Und ich weiß auch sehr genau, was es bedeutet, in der Schule diskriminiert zu werden. Als ich von der Realschule flog, haben die Lehrer zu meinen Freunden gesagt, sie sollen den Kontakt zu mir abbrechen. Wenn Ihnen in der Schule Tag für Tag nur mitgeteilt wird, dass Sie zu den Losern gehören, dann macht Schule eben keinen Spaß.
Daher Ihre Begeisterung für die Gemeinschaftsschule?
Auf jeden Fall. Aber nicht nur das: Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass alle Menschen Kompetenzen mitbringen, die man nur fördern muss.
Sie sind jetzt auch Integrationssenatorin. Was verstehen Sie unter Integration?
Mir ist wichtig, dass gesellschaftliche Institutionen allen Menschen Entwicklungsmöglichkeiten bieten und ihre Kompetenzen fördern. Menschen mit einer Behinderung wird zum Beispiel vieles gar nicht erst zugetraut, eben weil sie eine Behinderung haben. Das betrifft aber auch Menschen anderer Herkunft, mit einem anderen Aussehen. Sie haben in unserer Gesellschaft oft schlechtere Chancen. Solche Benachteiligungen müssen aufgebrochen werden.
Wenn man Ihnen zuhört, kann man kaum glauben, dass Sie aus Hessen stammen, Sie berlinern so …
Ich bin ja auch seit Anfang der 80er Jahre in Berlin.
Die Linkenpolitiker Harald und Udo Wolf sind ihre Cousins. Die wohnten damals in einer WG mit Volker Ratzmann, dem späteren Grünen-Fraktionschef. Mit dem waren Sie lange zusammen. Wie hat Sie diese Zeit geprägt?
Es gab viele Gemeinsamkeiten, aber auch Differenzen, harte Diskussionen und auch Brüche. Mich hat diese Zeit stark geprägt, und ich habe damals die Ausdauer auch für politische Auseinandersetzungen gelernt.
Sie haben in Ihren Lebenslauf auch geschrieben, dass Sie 1997/98 arbeitslos waren und dann über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme beschäftigt wurden. Ein Signal an Hartz-IV-Empfänger: Ich war mal eine von euch?
Das gehört einfach zu meinem Lebenslauf und muss da drinstehen. Ja, ich weiß, wie es ist, erwerbslos zu sein und keine Chance auf eine Arbeit zu bekommen. Allerdings gab es zu dieser Zeit Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Ich hatte nie so wenig Geld wie Menschen, die heute von Hartz-IV leben müssen.
Was wollen Sie als Arbeitssenatorin für Hartz-IV-Empfänger tun – jenseits der Richtwerte für die Miete?
Wir werden prüfen, inwieweit das Land Berlin bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen Auflagen machen kann. Betriebe, die sich etwa im Rahmen unseres Investitionsprogramms an der Schulsanierung beteiligen, müssten dann unbefristete, tariflich entlohnte Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose und auch Geflüchtete einrichten. Dafür würden sie einen Lohnkostenzuschuss erhalten und Unterstützung bei der Qualifizierung der neuen Mitarbeiter.
Dadurch dürften allerdings nur für einen Bruchteil der Langzeitarbeitslosen und Flüchtlinge Jobs entstehen.
Das hängt auch vom Umfang des Investitionsprogramms ab. Ansonsten hoffe ich, dass sich nach einer Bundestagswahl bundespolitisch etwas ändert – damit wir zum Beispiel das Geld, das jetzt zur Finanzierung von Erwerbslosigkeit verwendet wird, endlich dafür nutzen können, mehr gemeinwohlorientierte Arbeitsplätze zu schaffen.
Es gibt zwischen Linkspartei- und AfD-Anhängern gewisse Schnittmengen …
… die da wären?
Die Linkspartei hat im September WählerInnen an die AfD verloren. Auch Vertreter Ihrer Partei bedienen Ängste. Oskar Lafontaine sprach von „Fremdarbeitern“, die Fraktionschefin im Bund, Sahra Wagenknecht, von „Kapazitätsgrenzen“ bei Flüchtlingen.
Es war dennoch vor allem die CDU, die in Berlin Stimmen an die AfD verloren hat. Die Position von Sahra Wagenknecht in dieser Frage ist nicht die Position der Linken. Sie ist auch nicht meine Position.
Wie wollen Sie denn mit der AfD umgehen, die nun im Parlament sitzt?
Die AfD ist eine rechtspopulistische Partei mit Kontakten auch zu Rechtsextremen. Die Partei ist gewählt, deshalb muss man mit ihr die inhaltliche Auseinandersetzung führen. Man muss auch mit den Menschen reden, die sich vorstellen können, die AfD zu wählen.
Sehen Sie es als Ihre Aufgabe, nicht nur Migranten und Behinderte in die Gesellschaft zu integrieren, sondern auch Deutschstämmige, die sich abgehängt fühlen?
Ich glaube schon, dass man Menschen zurückgewinnen kann, wenn sie merken, dass Politik versucht, ihnen bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen. Man kann Menschen Ängste nehmen. Viele Berliner haben Angst davor, ihre Wohnung zu verlieren, ihren Job zu verlieren, keinen neuen zu finden. Da kann Politik etwas tun.
Arbeitsplätze und Wohnungen retten – ist das für eine rot-rot-grüne Landesregierung nicht doch ein etwas zu großes Vorhaben?
Ich sage nicht: Ich bin Senatorin, jetzt wird alles gut. Aber wir können mit politischen Entscheidungen Menschen durchaus Ängste nehmen. Ich sage allerdings auch: Wenn Leute fordern, dass Berlin „biodeutsch“ bleibt, wenn sie nicht bereit sind, Geflüchtete aufzunehmen, dann muss man klar Position beziehen. Dann muss man sagen: In unserer Stadt gibt es einen Platz für alle Menschen, die hier leben.
So etwas regt Sie auf?
Total. Mein Wahlkreis war Buch, Karow, Französisch-Buchholz, dort gibt es viele AfD-Anhänger, wir hatten große Auseinandersetzungen wegen der Flüchtlingsunterbringung.
Wie wollen Sie verhindern, dass eine Konkurrenz entsteht zwischen armen Alteingesessenen und Flüchtlingen, etwa um billige Wohnungen oder Jobs?
Es wird nur gehen, wenn wir mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen, auch für Studierende, auch für arme Senioren. Über Konzepte, um Arbeitsplätze zu schaffen, habe ich schon gesprochen. Das wird nicht von heute auf morgen gehen. Aber die Koalition hat das verabredet, wir werden das angehen.
Im Koalitionsvertrag steht beim Thema Integration die Einführung eines Antidiskriminierungsgesetzes an erster Stelle, nicht die Flüchtlingsunterbringung. Wie kommt ’s?
Es ist sehr wichtig, dass dieses Gesetz umgesetzt wird. Es gibt neben den Flüchtlingen viele andere Menschen, die Diskriminierungen ausgesetzt sind und die einen Anspruch darauf haben, dass man sie unterstützt.
Ihr Vorgänger, Mario Czaja (CDU), war mit der Flüchtlingsunterbringung überfordert. Wie wollen Sie das hinkriegen?
Es gibt landeseigene Immobilien, wo wir prüfen wollen, ob sie als Unterkünfte infrage kommen. Ich kenne beispielsweise ein ehemaliges Seniorenwohnheim in Buch, das gut geeignet wäre. Oder das Gelände des ehemaligen Bundesamts für Risikobewertung in Zehlendorf. Da stehen rund 25 Häuser leer, die werden geputzt und beheizt. Schon vor zwei Jahren haben wir vorgeschlagen, das zu einem Campus für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge umzubauen.
Eine andere Baustelle ist das ehemalige Lageso, das jetzt Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten heißt, kurz LAF. Wie wollen Sie diese Behörde in den Griff bekommen?
Das war so ein Schritt nach dem Motto: Raider heißt jetzt Twix, ansonsten ändert sich nix. Das LAF hat mehrere Standorte, dadurch gibt es nicht mehr die eine Riesenschlange wie am Lageso. Nach wie vor fehlt es in der Behörde aber an ausreichend Personal. Und da müssen wir ansetzen.
Der neueste Skandal: Alle Ausschreibungen des LAF für den Betrieb von Containerdörfern waren so fehlerhaft, dass sie neu gemacht werden müssen. Die Flüchtlinge sitzen weiter in den Turnhallen fest.
Europaweite Ausschreibungen sind bekanntlich schwierig. Deshalb holt man sich anwaltlichen Rat. Doch das wurde offenbar versäumt. Wir können natürlich nicht zulassen, dass die neuen Unterkünfte einfach leer stehen. Für mich stellt sich deshalb die Frage: Was muss im Amt verändert werden, um solche Ausschreibungen mittelfristig selbst hinzukriegen? Und kurzfristig überlegen wir, wie die Menschen möglichst schnell aus den Turnhallen herauskommen. Da gibt es Ideen für Lösungen, die wir aber erst mal im Senat besprechen müssen.
Ein Dach über dem Kopf ist das eine. Wie wollen Sie Flüchtlinge in Arbeit bringen?
Was es da bisher an Projekten gibt, ist alles nicht verkehrt. Aber die Angebote müssen besser aufeinander abgestimmt werden. Die Frage ist: Wie kommen wir dahin, dass Menschen ihre Kompetenzen in Betrieben anwenden können, begleitet von Deutschkursen? Das wird nur funktionieren, wenn die Arbeitgeber bereit sind sich zu beteiligen. Da müssen wir ins Gespräch gehen. Viele Geflüchtete bringen ja Qualifikationen mit. Aber die Anerkennung der Abschlüsse dauert unglaublich lange. Diese Prozesse müssen wir beschleunigen.
Jetzt haben wir über viele offene Baustellen gesprochen. Haben Sie einen Fahrplan, was Sie zuerst angehen wollen?
Das kann ich mir nur bedingt aussuchen. Es ist ja klar, dass es schnell eine Lösung geben muss, wie wir die Geflüchteten aus den Turnhallen in vernünftige Unterkünfte kriegen. Aber auch die Obdachlosenhilfe ist ganz aktuell. Wir haben in der Koalitionsvereinbarung stehen, dass wir 1.000 Plätze in der Kältehilfe haben wollen, das sind 200 mehr als im letzten Jahr. Damit müssen wir gleich anfangen. Sonst gibt es, wenn es ein harter Winter wird, möglicherweise Kältetote.
Sie haben schon viele Senatorinnen und Senatoren im Amt gesehen. Gibt es etwas, von dem Sie sich vorgenommen haben: Das darf mir unter keinen Umständen passieren?
Ganz furchtbar fand ich immer, wenn man im Abgeordnetenhaus eine Rede hält und der zuständige Senator oder die zuständige Senatorin sitzen dabei tief über ihre Postmappen gebeugt. Das fand ich extrem unangenehm. Es drückt eine Missachtung des Parlaments aus.
Sie geloben also zuzuhören, wenn Oppositionelle von CDU und AfD reden?
Wenn es meine Themen betrifft: ja.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Berliner Sparliste
Erhöht doch die Einnahmen!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid