Berlins Regierender im Interview: „Ich muss mir nichts mehr beweisen“
Corona bescherte Michael Müller neue Popularität. Ein Gespräch über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft, seine Zukunft und alte weiße Männer.
taz: Herr Müller, vor dreieinhalb Monaten wurde die erste Corona-Infektion in Berlin offiziell bestätigt. Wenn Sie auf diese Zeit zurückblicken, welcher Moment ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?
Michael Müller: Die Absage der Internationalen Tourismusbörse ITB, gleich zu Beginn der Krise. Das war ein Bruch, und uns im Senat wurde klar: Jetzt beginnt etwas ganz Neues. Und mir fällt auch sofort die Besichtigung des Covid-Notfallkrankenhauses Ende Mai auf dem Messegelände ein. Ich habe mir dabei vorgestellt, wie es wäre, wenn die Betten alle belegt wären. Was für eine Ausnahmesituation...
Der schnelle Bau des Notfallklinikums war eine Leistung des Senats – und jetzt müssen Sie geradezu froh sein, dass die knapp 50 Millionen Euro dafür in den Sand gesetzt wurden. Verrückte Zeiten!
Na ja. Es war immer klar, dass der Großteil der medizinischen und baulichen Ausstattung woanders verwendet werden kann und werden wird. Das Geld ist also gut angelegt. Wir wollten vorbereitet sein. Und das gilt auch weiterhin für eine mögliche zweite oder dritte Coronawelle.
Sie kommen gerade aus der wöchentlichen Sitzung des Senats, zu der erneut der Charité-Virologe Christian Drosten geladen war.
Stimmt. Und er hat betont, wie viele andere Experten auch, dass wir uns noch immer in einer Pandemie befinden und die Gefahr nicht vorbei ist.
Der Regierende:
Müller ist seit Dezember 2014 Berlins Regierungschef. Er setzte sich nach dem Rücktritt von Klaus Wowereit in einer SPD-Basisabstimmung gegen zwei weitere Kandidaten durch. Seit Ende 2016 führt er einen rot-rot-grünen Senat. Müller ist darin zugleich auch für die Wissenschaft zuständig.
Der SPD-Politiker:
Der 55-Jährige war mit Unterbrechungen zwölf Jahre Landeschef der Sozialdemokraten und er hat ihre Fraktion im Abgeordnetenhaus zehn Jahre lang geführt. Drei Jahre amtierte er zudem als Stadtentwicklungssenator unter Klaus Wowereit.
Der Mensch:
Müller wurde 1964 im heutigen Bezirk Tempelhof geboren. Er lernte nach der Mittleren Reife Bürokaufmann und arbeitete anschließend bis 2011 als Drucker im Familienbetrieb mit seinem Vater.
In der Coronakrise hat die Wissenschaft große Bedeutung für die Politik gewonnen, viel größer als je zuvor.
Der Wissenschaftsbereich in Berlin wird jetzt weltweit wahrgenommen. Wo wir ohne diese Experten und medizinische Einrichtungen wie der Charité wären – und ohne dass Politik die Beratung annimmt –, sieht man in anderen Ländern. Dass diese Leistungen nun endlich auch von einer großen Öffentlichkeit gewürdigt werden, freut mich ganz persönlich, auch besonders als Wissenschaftssenator.
Nun sprechen Politik und Wissenschaft oft nicht die gleiche Sprache – das wurde zuletzt an einigen Uneinigkeiten und nicht zuletzt in der öffentlichen Debatte um die Rolle von Christian Drosten selbst deutlich.
Ja, aber gleichzeitig ist das auch eine Chance. Ich habe den Forschern immer gesagt: „Ihr müsst für eure Arbeit werben, ihr müsst Menschen und Politik dafür begeistern. Es muss klarwerden, dass 100 Millionen Euro Förderung für die Wissenschaft gut ausgegebenes Geld ist.“ Diese Erklärung muss auch aus der Wissenschaft selbst kommen. Jetzt in der Coronakrise haben die Wissenschaftler diesen Auftrag angenommen. Sie gehen in die Öffentlichkeit, sie erklären einen Weg und sie unterstützen damit die Politik.
Ein weiterer Unterschied ist, dass in der Wissenschaft angestrebt wird, Thesen zu widerlegen, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Ein Politiker, der seine These wechselt, gilt als Umfaller und muss im schlimmsten Fall zurücktreten.
(lacht) Das gab es schon, richtig.
Im Verlauf der Coronakrise gab es mehrere deutliche Richtungswechsel, etwa was den Sinn von Mund-Nase-Schutz angeht oder den Nutzen der Schließung von Schulen und Kitas. Drosten hat sich da mehrfach korrigiert. Das wurde von Ihnen bekanntermaßen nicht immer euphorisch aufgenommen, weil in der Folge auch der Senat seinen Kurs wechseln musste. Für Sie war das schwieriger zu verkaufen als für die Wissenschaftler. Die können immer sagen, sie hätten jetzt schlicht neue Erkenntnisse.
Stimmt. Aber wenn man als Politiker oder Wissenschaftler dazulernt, ist das doch ein positives Zeichen. Corona war auch für die Wissenschaft neu, und sie hat trotzdem innerhalb von Wochen viele Antworten liefern können. Wir werden wohl so schnell wie in kaum einem anderen Bereich einen Impfstoff oder eine Medizin haben, weil alle zusammenarbeiten und lernen. Und die Politik lernt mit. Politik und Wissenschaft haben sich auf diesem Weg korrigiert. Kann man das beiden wirklich vorwerfen?
Es geht ja darum, die Fehler zu vermitteln, zu erklären.
Genau das machen wir. Klar ist das schwierig. Wer wusste denn schon von Anfang an, was da auf uns zukommt? Wir Politiker bekommen mit, was da gerade entsteht – und sehen parallel dazu die Bilder aus Italien mit Militärtransportern, auf denen Leichen liegen. Vor diesem Hintergrund wird dann nicht jede Entscheidung mit kühlem Kopf und für alle Ewigkeit getroffen. Aber im Ergebnis ist doch vieles sehr sachgerecht und gut entschieden worden. Wir haben also sehr vieles richtig gemacht.
Welche Rolle spielte das Nachbarland Brandenburg bei den Entscheidungen?
Wir haben immer gesagt, dass Berlin als Stadtstaat keine Insellösung formulieren kann. Unser Handeln muss – mindestens – mit Brandenburg abgestimmt sein. Und es war richtig, weitgehend koordiniert vorzugehen.
Vergangene Woche ist Brandenburg damit vorgeprescht, die Kontaktbeschränkungen aufzuheben. Das widerspricht dieser These doch!
Nein. Die Aufhebung ist auch in Berlin schon länger eine durchaus realistische Option. Es geht nicht darum, wer eine Woche schneller ist. Es geht um eine grundsätzlich einheitliche Linie.
Das heißt, der Senat wird mit der Aufhebung der Kontaktbeschränkung kommende Woche nachziehen?
Mindestens die Systematik der Verordnung wird sich ändern.
Wie ist das eigentlich für einen erfahrenen Politiker wie Sie, nun mit einem Virus zu kämpfen – also nicht persönlich als Krankheit, sondern mit einem großen unbekannten, plötzlich aufgetauchten Gegner nicht politischer oder wirtschaftlicher Art?
Es ist nicht so, dass ich dauernd schlaflose Nächte habe. Aber es ist insgesamt eine bedrückende Situation, auch durch einen Coronatodesfall und eine schwere Corona-Erkrankung im Freundeskreis, dazu hat meine Mutter Asthma – auf einmal kommt einem diese große Krise sehr nah, sie wird sehr persönlich. Das unterscheidet diese Situation von anderen politischen Themen.
Hat die Intensität dieser Krise auch damit zu tun, dass politisches Handeln höchstens für ein paar Tage, bestenfalls zwei Wochen, absehbar ist? Das berühmte Auf-Sicht-Fahren?
Ja. Die Notwendigkeit, ständig zu reagieren und sich auch zu korrigieren – auch in dieser Geschwindigkeit –, ist anders als sonst.
Bereits im Januar war Ihre Nachfolge als SPD-Landeschef geregelt worden: Im Mai sollten Raed Saleh und Franziska Giffey den Posten in einer Doppelspitze übernehmen. Der Parteitag fiel aus, und Sie sind immer noch SPD-Chef...
(lacht) Stimmt. Da wundern sich viele.
Denken Sie im Rückblick, dass Sie doch länger darum hätten kämpfen sollen, Parteichef zu bleiben?
Ich habe keinen Kampf aufgegeben, sondern mich im Dezember entschieden, dass zwölf Jahre Parteivorsitz wirklich genug sind. Insofern war ich völlig mit mir im Reinen und bin es immer noch.
Kanzlerin Angela Merkel hatte auch angekündigt, aufzuhören – nun drängen sie in der Krise manche, nochmal als Kanzlerin zu kandidieren. Gab es auch bei Ihnen konkrete Anfragen, dass Sie noch mal als Spitzenkandidat der SPD antreten?
Franziska Giffey und Raed Saleh werden für den SPD-Landesvorsitz kandidieren. Die anderen Fragen spielen zu einem späteren Zeitpunkt eine Rolle. Und wir waren in den letzten Wochen auch mehr mit Corona beschäftigt als mit Personaldebatten.
Sie hatten ja die Gelegenheit, in der „Markus Lanz“-Talkshow vor bundesweitem Publikum alles klar zu machen. Stattdessen haben Sie die Antwort auf die Frage, ob Sie nicht doch über 2021 hinaus Regierungschef bleiben wollen, offengelassen. Warum?
Ich habe etwas entschieden für den Parteivorsitz. Und damit – ich mache mir ja nichts vor – gibt es auch eine Diskussion um die Situation im Roten Rathaus. Das ist okay, aber noch ist nichts entschieden.
Was treibt Sie denn?
Es macht einfach Spaß, wenn man spürt, da geht noch was – da hören Sie bei Ihrer Arbeit doch auch nicht morgen auf! Es ist ja nicht nur die Bewältigung von Corona. Mich macht es sehr glücklich, was wir bei Wissenschaft und Forschung erreicht haben. Und das ist nicht selbstverständlich, wenn man meine Biografie kennt.
Nicht selbstverständlich, weil Sie nie zur Uni gegangen sind, sondern Drucker gelernt und einen Handwerksbetrieb geführt haben?
Genau. Ich sitze hier im Roten Rathaus mit Präsidentinnen und Präsidenten von Forschungseinrichtungen, mit Nobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträgern zusammen, mit Professorinnen und Professoren, die weltweit anerkannt sind. Und wir können miteinander Dinge für den Wissenschaftsstandort Berlin verabreden.
Da hören wir eine Genugtuung heraus, es als Nichtakademiker Zweiflern gezeigt zu haben. Gab es Situationen, in der andere auf Sie herabschauten, weil Sie kein Abitur haben?
So etwas habe ich in meiner kurzen Zeit als Kultursenator gespürt. Da gab es einige in der Kulturszene, die bis heute erzählen, dass ich noch nie in der Oper oder im Theater war, weil sie unterstellen, dass der Handwerker nicht in die Oper geht. Was für ein Unsinn! Meine Eltern hatten schwierige wirtschaftliche Zeiten, aber es wurde gespart, damit wir mitunter jede Woche in die Oper oder ins Theater gehen konnten.
Sie dürfen hier gern Namen nennen …
Dürfen, aber nicht müssen. Aber in der Wissenschaft habe ich so etwas jedenfalls noch nie gespürt.
Es gibt ja nicht viele – sagen wir – Proletarier im SPD-Sinn. In Ihrer Fraktion haben nur vier von 38 SPD-Abgeordneten nicht studiert.
Auch darüber hinaus: Franz Müntefering, Kurt Beck – nur wenige haben es ohne Abitur und Studium in die erste Reihe geschafft, als Minister, Parteivorsitzender oder Ministerpräsident.
Braucht es wieder mehr Handwerker und Arbeiter in den Parlamenten?
Eindeutig. Solche Erfahrungen tun der Politik gut. Dass wir ein Mikrokreditprogramm für kleine Selbständige haben, die damit ohne große Prüfung 10.000 oder 20.000 Euro bekommen – das hat auch etwas mit meiner Erfahrung als Handwerker zu tun. Eine Bank hat mir mal 10.000 Mark für eine gebrauchte Druckmaschine nicht gegeben, weil ich keine Sicherheiten vorweisen konnte. Das prägt. So eine persönliche Erfahrung in die Politik einbringen zu können, ist wichtig.
Eine andere aktuelle Debatte zu Biografien dreht sich um die der „alten weißen Männer“, wie SPD-Innensenator Andreas Geisel es genannt hat, die zu wenig Einblick in der Frage von Rassismus und Diskriminierung hätten. Hat Ihre Politiker-Generation – Sie sind 1964 geboren – da was verpasst?
Alter Mann … na schönen Dank! Aber im Ernst: Man kann es ganz simpel runterbrechen: In meiner Generation, noch mehr bei den Älteren, gab es kein selbstverständliches Erleben oder Auseinandersetzen mit Diversity-Themen. Ich war nie im Ausland als Student und meine Eltern konnten sich, wenn’s gut lief, einmal im Jahr eine Reise nach Italien leisten. Wir sind nicht nach Asien, wir sind nicht nach Afrika geflogen, wir haben nicht direkt andere Kulturen und Religionen kennengelernt. Für die Generationen von heute ist das oft selbstverständlich – durch Schule, Studium und Freundschaften.
Kriegt man deren Blickweise jetzt in den politischen Diskus rein?
Das passiert nicht von allein. Es ist wie mit unserem Quotenbeschluss. Der regelt nicht alles, aber ohne ihn hätten wir keinen Frauenanteil von 40 bis 50 Prozent in den Gremien und Ämtern. Wenn ich Beteiligung will, dann muss ich dafür Rahmenbedingungen schaffen und Beschlüsse fassen. Ich muss es schlicht ermöglichen.
… um letztlich andere zu zwingen, Realitäten zu akzeptieren? Eine Quote macht ja nichts anderes.
„Zwingen, Realitäten zu akzeptieren“ – so kann man es auch formulieren. Das hört sich hart an, aber anders geht es nicht.
Sie präsentieren sich uns hier als ein sehr offener, toleranterPolitiker, der sich beraten lässt, der Entscheidungen nicht durchpaukt. Gleichzeitig aber galten Sie lange auch als der zögerliche Nachfolger von Klaus Wowereit …
... jaja, entscheidungsschwach, führungsschwach, blass – ich kenne die seitenfüllenden Beschreibungen.
Ist die Zeit solcher Alpha-Tiere wie Wowereit oder aktueller Markus Söder, Bayerns Ministerpräsident, abgelaufen?
Jede Zeit hat ihre Politiker mit bestimmten Profilen. Da ändert sich auch immer mal was, aber unterm Strich erwarten Wählerinnen und Wähler durchaus Führung. Nur, Führung funktioniert unterschiedlich: lautstark mit geballter Faust in Bierzelten zum Beispiel. Man kann sie aber auch einfach vorleben.
Söder würde in Berlin nicht funktionieren, aber Müller in Bayern auch nicht?
So sehe ich das.
Diese seitenfüllende Beschreibung vom angeblich Führungsschwachen, Blassen – die hat immerhin zu Reaktionen bei Ihnen selbst geführt. Sie sitzen uns hier gar nicht blass gegenüber, und Sie tragen seit einer Zeit diese markante Brille...
Ich hoffe, die Brille ist es nicht allein … Natürlich beschäftigt man sich mit Kritik von außen. Jeder Politiker ist ein bisschen eitel und möchte gerne öffentliche Zustimmung haben – da hängen auch die Partei und die Wahlergebnisse dran. Und man fragt sich schon: Kannst du noch was ändern? Aber man muss mit sich im Reinen sein, verbiegen sollte man sich nicht.
Und wer hatte die Idee mit der Brille?
Ich brauchte wegen neuer Gläser schlicht eine neue, und dann hat meine Tochter mich beraten.
Liefen Sie denn mal Gefahr, sich zu verbiegen?
Vielleicht habe ich in der zurückliegenden Zeit den Fehler gemacht, mich selbst zu sehr unter Druck zu setzen. Aber irgendwann kam der Punkt, an dem ich dachte: Gut, dann wirst du eben so wahrgenommen, als blass und nicht so durchsetzungsstark, und hast trotzdem viel erreicht. 25 Jahre Abgeordneter, zwölf Jahre Landesvorsitzender, zehn Jahre Fraktionschef, Regierender Bürgermeister. Und ich habe viele Themen gesetzt: Wohnungsbau, Wissenschaft, Investitionen. Ist doch nicht so, dass ich mich damit verstecken muss.
Sie wirken jetzt sehr gelöst – sind Sie bereit für den Bundestag? Angeblich ist ja schon fest abgesprochen, dass Sie die SPD-Kandidatenliste für die Wahl 2021 anführen.
Waren wir nicht eben noch beim Thema, ob ich nicht auch in der nächsten Legislaturperiode noch Regierender Bürgermeister bin?
Ist aber so in der SPD allenthalben zu hören.
Ich bin bereit, weiter Politik zu machen.
Diesen Satz – zumindest so ähnlich – haben wir vor zwei Wochen auch von Ramona Pop, der grünen Wirtschaftssenatorin, gehört, als wir nach dem Thema Spitzenkandidatur fragten...
Dann muss ich mir etwas anderes einfallen lassen.
Es könnte ja auch sein: Raus aus der Politik, rein in die weite Welt der was auch immer.
Ich muss nicht irgendwo Lobbyist oder Berater werden, wenn Sie das meinen.
Stiftungschef ginge ja auch …
Jetzt sehen Sie mich ja plötzlich schon als Rentner.
Dafür müssten Sie ja noch ein paar Jahre einzahlen, Sie sind ja erst 55.
Müssen überhaupt nicht. Das ist ja das Schöne: Ich muss gar nichts mehr, weder wirtschaftlich, noch um mir oder irgendjemandem etwas zu beweisen. Aber ich habe weiter Lust, politisch etwas zu bewirken und aktiv zu sein.
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