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Berlins Grünenchef über den Wahlkampf„Auspuff-Liberalismus der SPD“

Der Noch-Koalitionspartner nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau, sagt Werner Graf. Die SPD versuche, die Stadt in die Betonzeit zurückführen.

Grünen-Spitzenkandidatin Bettina Jarasch auf der Friedrichstraße Foto: dpa
Bert Schulz
Interview von Bert Schulz

taz: Herr Graf, ist der Begriff Veränderung für Sie positiv oder negativ besetzt?

Werner Graf: Veränderung ist erst mal ein Fakt. Negativ ist es, wenn man den Menschen vorgaukelt, dass es keine Veränderung geben wird.

Viele Veränderungen sind aktuell mit dem Wort Krise verbunden: die Klimakrise, die Coronakrise, die Verkehrskrise in Berlin.

Wir haben viele Probleme oder besser: Herausforderungen, die auf uns zukommen. Das Klima heizt sich auf, wir werden mehr heiße Sommer haben, auch in Berlin. Die Stadt wächst, deswegen werden mehr Menschen mobil sein. Wenn man alles so lässt, wie es ist, wird es schlimm für die Menschen hier. Deswegen geht es darum, diese Veränderungen jetzt positiv zu gestalten.

Wie denn?

Wir wollen die Verkehrswende, und Berlin von einer autofixierten Stadt zu einer Stadt für die Menschen umbauen. Wir wollen Berlin durch mehr Stadtgrün lebenswert erhalten und an Klimaveränderungen anpassen. Das beginnt mit einer schattigen Bank unter einem Baum, auf der ältere Menschen verweilen können und reicht bis zu Entsiegelung von Schulhöfen und Parkplätzen, damit Regenwasser versickern kann und gleichzeitig die Stadt kühlt. Und wir wollen die Mie­te­r*in­nen schützen, damit die Menschen nicht mehr aus ihren Kiezen vertrieben werden.

Glauben Sie, dass die Ber­li­ne­r*in­nen offen sind für diese Veränderungen?

Im Interview: Werner Graf

Werner Graf, 41, führt seit Dezember 2016 zusammen mit Nina Stahr die Berliner Grünen. Er kandidiert für die Abgeordnetenhauswahl. Ist das erfolgreich, darf er laut den Statuten der Grünen nicht mehr Parteichef sein.

Wir merken immer wieder, dass Menschen, wenn Veränderungen anstehen, Angst davor bekommen. Und diese Angst wollen wir ihnen nehmen. Allerdings wird die Angst derzeit von der Giffey-SPD geschürt, indem sie Pappkameraden aufstellt und es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Das ist fatal. Franziska Giffey wird ja gerade zur Schutzpatronin der Schottergärten – wir brauchen aber mehr Grün als Grau und genau dafür steht Bettina Jarasch.

Was meinen Sie mit Pappkameraden?

Die Giffey-SPD behauptet zum Beispiel, dass die Grünen Autos verbieten wollen. Das stimmt einfach nicht. Wir wollen, dass mehr Menschen auf das Auto verzichten können; dafür wollen wir die Stadt so umbauen, dass möglichst jede und jeder sich gut darin bewegen kann. Die Giffey-SPD verbreitet reinen Auspuff-Liberalismus, bei dem sich jede und jeder dem Auto unterzuordnen hat und bei dem es keine Rolle spielt, ob Eltern ihre Kinder beruhigt mit dem Fahrrad zur Schule schicken können, oder Angst haben müssen, dass sie vom Auto überfahren werden.

„Wir werden nicht tatenlos zusehen, dass die Giffey-SPD jetzt vieles wieder zurückdreht, zurück möchte in eine neoliberale GroKo, die Berlin mit Benzin im Blut und Beton im Kopf führt.“

Die Grünen fordern, dass in der Innenstadt ab 2030 nur noch emissionsfreie Autos, nach aktuellem Stand also vor allem Elektroautos, unterwegs sein dürfen. Verstehen Sie, dass Menschen vor dieser Vision Angst haben können?

Ich verstehe das sehr gut. Veränderungen waren nicht immer etwas Gutes. Wir haben gerade mit der Coronapandemie eine große Krise durchlebt. Viele Menschen waren und sind in Kurzarbeit, viele bangen um ihren Job. Aber wir wissen doch: Wenn wir die Stadt nicht klimaneutral umgestalten, kommen ganz andere Szenarien auf uns zu. Wir müssen den Leuten deshalb klarmachen, dass eine ökosoziale Politik am Ende Berlin für die Menschen sogar mehr Lebensqualität bringt. Das haben wir versucht, indem wir zum Beispiel unsere Hauptstadtvisionen bildlich dargestellt und gezeigt haben, wie ein grüner Stadtumbau aussehen kann. Und das machen wir deutlich, indem wir den Mut zeigen, uns mit der Immobilienlobby anzulegen und nicht nur nach deren Pfeife zu tanzen, wie das die Giffey-SPD tut.

Es ist Wahlkampf, da wird auch zugespitzt.

Zuspitzung ist okay. Dass man mit der Wahrheit aber derart ungenau umgeht, finde ich nicht korrekt. Letztlich muss die SPD für sich klären, ob sie diesen Rechtskurs wirklich will.

„FFF ist so wichtig, weil die Bewegung die Kräfteverhältnisse in die richtige Richtung verändern. Das können wir Grünen gut aushalten.“

Schwingt da nicht auch die Enttäuschung mit, dass die SPD nicht gemeinsam mit Grünen und Linken offensiv für eine Fortsetzung von Rot-Rot-Grün kämpft?

Nein, das ist unser Kampfgeist. Es geht um verdammt viel: Schaffen wir ein soziales, ökologisches und gerechtes Berlin oder nicht? Auf dem Weg dahin hat Rot-Rot-Grün in den letzten fünf Jahren wahnsinnig viel erreicht. Wir werden nicht tatenlos zusehen, dass die Giffey-SPD jetzt vieles wieder zurückdreht, zurück möchte in eine neoliberale Groko, die Berlin mit Benzin im Blut und Beton im Kopf führt.

Es gibt viele Initiativen gerade im Umwelt- und Verkehrsbereich, denen geht das, was die Grünen in dieser Legislatur umgesetzt haben, nicht weit genug.

Bettina Jarasch im taz-Talk

Als letzte der vier Spit­zen­kan­di­da­t*in­nen kommt am Montag, 13. September, Bettina Jarasch zum Wahltalk in die taz-Kantine. Beginn ist um 19 Uhr. Wer keine Plätze mehr bekommt, kann das Gespräch auch live online verfolgen. Alle Infos finden sich hier. Dort gibt es auch die Links zu den aufgezeichneten Gesprächen mit Franziska Giffey (SPD), Kai Wegner (CDU) und Klaus Lederer (Linke). (taz)

Ich persönlich bin sehr zufrieden, wenn man bedenkt, wo wir gestartet sind und dass natürlich auch in dieser Koalition viele Erfolge und Weichenstellungen erstritten werden mussten. Die Vorgängerregierungen hatten diese Stadt kaputtgespart; es gab sogar Firmen, die Termine auf Bürgerämtern gegen Geld verkauft haben. In der SPD-geführten Verkehrsverwaltung gab es keinen einzigen Plan für eine Tram- oder U-Bahnstrecke; berlinweit gerade mal drei Pla­ne­r*in­nen für den Radverkehr. Wir haben das umgestellt, inzwischen gibt es allein 70 Stellen für den Radausbau.

Trotzdem: Schnelle Erfolge auf der Straße sehen anders aus. Es gibt zum Beispiel nach fünf Jahren keinen einzigen Radschnellweg.

Es ist entscheidend, dass man erst die Strukturen schafft, die Verwaltung umbaut; dann folgen die nächsten Schritte fast von allein. Wer heute mit offenen Augen durch die Stadt fährt, sieht doch an allen Ecken und Enden, dass immer mehr geschützte Radwege entstehen. Klar, ich verstehe, dass viele das schneller wollten. Möchten wir auch. Aber nachdem 70 Jahre lang die autogerechte Stadt geplant und gebaut wurde, kann man nicht erwarten, dass schon nach fünf Jahren alles anders ist.

Sehen Sie diese Reformen gefährdet?

Ja. Diesen Umbau der Verwaltung kann man mit einem kurzen Schlag wieder kaputtmachen. Und das exerziert die Giffey-SPD doch schon vor, als sie vor Kurzem die letzten Teile des Mobilitätsgesetzes kippte, das Baugesetz für mehr Gründächer stoppte und nun auch noch die Charta Stadtgrün zu Fall brachte.

Wenn die Grünen den Anspruch haben, die ganze Stadt zu vertreten und die Regierende Bürgermeisterin zu stellen, stehen sie vor einem Spagat: Den einen geht es generell nicht schnell genug, die anderen zu schnell. Wie soll dieser Spagat gelingen?

Indem wir in vielen kleinen Bereichen, an vielen verschiedenen Orten jenseits des S-Bahnrings und in der Innenstadt, in dicht und weniger dicht besiedelten Gebieten mit einzelnen Projekten anfangen. Und dort zeigen, wie gut es sein kann, wenn man die Stadt umbaut.

Der von den Initiativen vielfach kritisierte Flickenteppich als Chance?

Genau. Ich würde eher von vielen grünen Oasen sprechen, die immer größer werden und immer mehr Menschen begeistern und überzeugen. Auch in Städten wie Kopenhagen haben Gewerbetreibende anfangs gegen autofreie Straßen demonstriert. Fünf Jahre später forderten dann jene, deren Straße nicht autofrei war, genau diese Veränderungen ein. Wir müssen die Menschen bei der Veränderung mitnehmen. Und das geht nicht, wenn wir die Veränderung auf einen Schlag machen und sagen: Ab morgen ist die ganze Innenstadt autofrei.

Am Freitag vor der Wahl gibt es erneut einen großen Klimastreik. Auch da sind die Grünen dabei, oder?

Ja.

Die Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen sind aus einer jüngeren Generation, denen der Kampf gegen die Klimakrise viel zu langsam geht. Auch da ist ein Spagat gefordert.

Wir müssen radikal vernünftig sein. Ich verstehe, dass die junge Generation sagt: „Ihr Älteren, ihr habt so lange Zeit gehabt, umzusteuern, aber ihr habt es verbockt.“ Das haben wir ja auch. Deswegen ist es gut und richtig, dass sie Druck machen. Denn es gibt ja auch die, die Druck machen, dass sich nichts verändert, die Profiteure der Gegenwart. Deswegen sind die „Fridays“ so wichtig: sie verändern die Kräfteverhältnisse in die richtige Richtung. Das können wir Grünen gut aushalten.

Dieser Druck äußert sich inzwischen auch im parlamentarischen System. In Berlin tritt zum Beispiel die Klimaliste explizit mit einem radikaleren Klimaschutzprogramm an. Haben Sie Sorge, dass kleine Parteien wie diese Ihnen genau die Prozentpunkte rauben, die letzten Endes reichen würden, um die Regierende Bürgermeisterin zu stellen?

Die Entscheidung ist doch: Ist Klimaschutz in der nächsten Regierung prominent und mit einer starken Stimme vertreten oder wacht man mit einer neoliberalen Groko auf? Wir Grüne haben die Chance, mit Bettina Jarasch aus dem Roten Rathaus heraus ein radikal vernünftiges Programm für den Klimaschutz umzusetzen. Dafür gilt es jetzt zu kämpfen und sie haben recht: Dafür braucht es jede Stimme. Deswegen gehts ums Ganze und gibt es keine Stimme zu verschenken.

Das ist doch ein Widerspruch. Auf der einen Seite sagen Sie: Wir brauchen diesen Druck von außen. Auf der anderen Seite appellieren Sie jetzt, taktisch zu wählen und diesen Druck nicht bei der Wahl zu unterstützen, sondern sich für die sanftere Version zu entscheiden.

Wir sind nicht die sanftere Version. Noch mal: Wir können diese Stadt sozialökologisch umbauen. Ich bin dafür, dass man die Kräfte bündelt und gemeinsam etwas für den Klimaschutz tut – und sich nicht spaltet.

Bei einem anderen Thema haben die Ber­li­ne­r*in­nen erstaunlich wenig Berührungsängste mit einem sehr radikalen Ansatz, nämlich beim Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co. enteignen. Überrascht Sie das? Enteignen war ja ewig ein Tabu.

„Wir unterstützen die Ziele des Volksbegehrens, wollen diese aber mit einem Mietenschutzschirm schneller, breiter und rechtssicher erreichen.“

Jeder zweite Ber­li­ne­r*in hat Angst, seine Wohnung zu verlieren und vertrieben zu werden aus dem Zuhause, aus dem Kiez. Gerade für ältere Menschen ist das eine enorme psychische Belastung. Und wenn die Menschen sehen, dass es eine Immobilienlobby und internationale Spekulanten gibt, mit der die Politik gar nicht mehr auf Augenhöhe verhandeln kann oder will, ist der Wunsch nach Enteignung nachvollziehbar. Und es ist doch heftig, wenn die Giffey-SPD dazu nur sagt: Die Bundesgesetzgebung …

etwa die Mietpreisbremse …

… reicht doch aus, die Leute sollten sich nur mal ordentlich informieren und dann passt das schon. Das ist ja eben nicht der Fall. Der Bund hat jahrzehntelang versagt beim Schutz der Mieter*innen. Und jetzt müssen wir hier in Berlin immer neue Maßnahmen finden, um sie zu schützen. Deswegen haben unsere grünen Stadträte Instrumente wie Vorkaufsrecht und Milieuschutz etabliert und konsequent gegen Verdrängung eingesetzt.

Zurück zum Volksentscheid: Ist die Position der Grünen eigentlich Ja oder Jein?

Wir unterstützen die Ziele des Volksbegehrens, wollen diese aber mit einem Mietenschutzschirm schneller, breiter und rechtssicher erreichen. Dafür wollen wir den Druck des Volksentscheids nutzen. Wir schlagen eine Art Pakt vor, aber einen, bei dem wir nicht „bitte, bitte“ sagen, sondern das Druckmittel der Vergesellschaftung als Ultima Ratio weiter auf dem Tisch haben, wenn wir verhandeln.

„Die Entscheidung ist doch: Ist Klimaschutz in der nächsten Regierung prominent vertreten?“ Foto: dpa

Bis ein Vergesellschaftungsgesetz kommt und von Gerichten abgesegnet ist, können gut und gerne zehn Jahre vergehen. Warum sollte die Immobilienbranche auf diesen Pakt, der ihre Enteignung verhindert, eingehen? Diese Zeit könnte die Branche einfach aussitzen.

Na, weil sie weiß, dass die Vergesellschaftung doch kommt, wenn sie sich nicht bewegt. Unsere Spitzenkandidatin Bettina Jarasch hat eine überzeugende Strategie: Die drohende Vergesellschaftung zwingt die Lobby an den Verhandlungstisch. Der Volksentscheid ist der Faustpfand der Stadtgesellschaft, damit sich die Mietensituation ändert. Wenn beim Volksentscheid eine Mehrheit „Ja“ sagt, wird das die Sichtweise der Immobilienwirtschaft verändern.

Franziska Giffey hat sich gegen ein solches Gesetz ausgesprochen. Wie wollen Sie es parlamentarisch durchsetzen?

Die Entscheidung bleibt jetzt erst mal den Ber­li­ne­r*in­nen überlassen und darüber wird man sich nicht einfach hinwegsetzen können. Eine Regierende Bürgermeisterin Bettina Jarasch wird dann im Sinne der Mie­te­r*in­nen in harte Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit der Immobilienwirtschaft gehen.

Können Sie sich angesichts der aktuell zugespitzten Situation zwischen SPD, Grünen und Linken überhaupt noch vorstellen, dass es unter Franziska Giffey zu einer Fortsetzung der aktuellen Koalition kommt?

Wir haben mit der Müller-SPD wahnsinnig gut zusammengearbeitet. Und es gibt sehr viele Kräfte in der SPD, die sich Rot-Rot-Grün wünschen und sich noch gut erinnern, dass Rot-Schwarz Berlin nicht gut getan hat. Und das soll mit der FDP auf einmal gut werden? Da wird einiges auf die SPD an internen Debatten zukommen.

Wahnsinnig gut? Das klang auch schon anders.

Ja, das stimmt schon. Michael Müller war aber alles in allem ein sehr verlässlicher Partner für eine ökosoziale Politik in dieser Stadt. Mit seiner SPD haben wir unsere Interessen immer gut ausgetauscht, auch mit den Linken zusammen.

Sie haben vorher schon die Coronakrise angesprochen. Warum spielt sie keine Rolle im Wahlkampf?

Ich glaube, das Thema eignet sich einfach nicht für den Wahlkampf.

Aber es ist doch ein Thema, das die Leute jeden Tag betrifft. Jeden Tag wird darüber diskutiert.

Die Politik muss tagesaktuell reagieren, je nachdem, wie die Zahlen sich entwickeln. Auf ein Plakat zu schreiben, ab welcher Inzidenz es wie ist, ist nicht das Richtige. Jenseits davon ist eine 2G-Regel sinnvoll.

Also der Zugang nur für Geimpfte und Genesene, nicht für Getestete. In welchen Bereichen denn?

Zum Beispiel für Clubs, Kneipen, Kinos, Theater. Wenn man dazu sagt, dass die Kinder mit dürfen, weil die im Augenblick nicht geimpft werden können. Schließlich haben sie eine besonders große Last in der Pandemie getragen; sie dürfen nicht noch mal bestraft werden.

Wäre das keine Impfpflicht durch die Hintertür?

Wir haben im Augenblick wieder ansteigende Zahlen bei der Belegung der Intensivbetten. Wenn sich jemand einer Impfung ohne triftigen Grund verweigert und bewusst in Kauf nimmt, dass unser Gesundheitssystem stark belastet wird, müssen wir als Staat handeln. Wir können nicht die Menschen, die Verantwortung für alle übernehmen, dafür bestrafen, dass es andere nicht tun.

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