Berlins Grüne nach 1 Jahr Rot-Rot-Grün: Willkommen auf dem Partytag
Rot-Rot-Grün in Berlin hat im ersten Jahr viel Kritik eingesteckt – unberechtigterweise, finden die Grünen, und nutzen ihren Parteitag zum feiern.
Parteien sind letztlich auch nur Menschen, und an manchen Tagen wollen sie einfach keine Kritik hören, ja nicht mal äußern. So geht es den Berliner Grünen auf ihrem Parteitag: Seit fast einem Jahr regieren sie zusammen mit Linkspartei und SPD im Land; eine Zeit, in der sie auch viel Kritik zu hören bekamen. Deswegen wollen sie an diesem Samstag vor allem eins: Feiern, dass sie in ihrer Hochburg Berlin erstmals seit ihrer Gründung dauerhaft an der Macht sind. Und die Gelegenheit für den Partytag ist günstig: Nachdem Jamaika im Bund geplatzt ist, bleibt die Zerreißprobe über dieses schwierige Bündnis auf jeden Fall erspart.
So wird die erste Debatte über den Leitantrag über die Regierungsarbeit im ersten Jahr R2G eine vielstimmige Lobeshymne. Die drei grünen Senatsmitglieder machten tolle, engagierte und natürlich jetzt schon erfolgreiche Arbeit. Verkehrs- und Umweltsenatorin Regine Günther (eigentlich parteilos, von den Grünen aufgestellt) habe den Kohleausstieg des Landes bis 2030 durchgesetzt und leiste Pionierarbeit mit dem so gut wie verabschiedungsbereiten Entwurf des deutschlandweit ersten Mobilitätsgesetzes. Ebenso Justizsenator Dirk Behrendt mit seinem Schwerpunkt auf Antidiskriminierung.
Wirtschaftssenatorin Ramona Pop schließlich sorge für dringend benötigen Investitionen bei den landeseigenen Betrieben, etwa 3 Milliarden Euro bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG). Zudem habe sie das noch unter Rot-Schwarz gegründete Stadtwerk „entfesselt“, sprich überhaupt erst zu einem überlebens- und handlungsfähigen Unternehmen auf dem Energiemarkt gemacht.
Wie groß die Harmonie am Samstag war, zeigt sich schließlich am ehrlichen Lob der Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg und erklärten Parteilinken Monika Herrmann für die ausgezeichnete Arbeit von Oberreala Ramona Pop. „Das ging runter wie Öl“, kommentiert die Abgeordnete Katrin Schmidberger die knapp einstündige Debatte, die man eigentlich nicht so nennen konnte.
Gegenstimmen? Gibt's nicht
Erst gegen deren Ende machen einige Redner darauf aufmerksam, dass die Stimmung in der Stadt draußen leider nicht ganz so berauschend ist wie in der ehemaligen Kreuzberger Kirche, in der der Parteitag stattfindet. Da gebe es zum Beispiel Unmut über fehlende Schulplätze und mangelhafte Anbindung durch unzuverlässigen Öffentlichen Nahverkehr. Man müsse den Berlinern zudem vermitteln, wenn die Lösung eines Problems länger dauere.
Fraktionschefin Antje Kapek erinnert daran, dass viele Berliner weiterhin Angst um ihre Sicherheit hätten: Vor allem vor einem Anschlag, wobei allerdings der Straßenverkehr in Berlin das weitaus größere Risiko darstelle. In den beiden Tagen zuvor waren zwei Radfahrer unverschuldet ums Leben gekommen.
Einig sind sich alle, dass noch viel Arbeit für die Grünen ansteht. Unklar bleibt, wie viel Versäumnisse der Vergangenheit aufgearbeitet werden müssen: zehn Jahre Sparkurs sprich Haushaltskonsolidierung, wie Ramona Pop meinte? 15 Jahre „brutalster Abbau der Verwaltung“, was Monika Herrmann anmerkte? 20 Jahre verpatzte Wohnungspolitik (Schmidberger)? Gar 100 Jahre autogerechte Stadt (Kapek)?
Gegenstimmen für die wichtigen Anträge gibt es nicht: Sie werden meist mit wenigen Enthaltungen angenommen. Abgelehnt werden lediglich Anträge, die einen schnellen Ablauf des Tages verhindern könnten.
Canan Bayram ist krank
Einige eigentlich höchst kontroverse inhaltliche Punkte umschiffen die Delegierten souverän. Das auch im Berliner Landesverband nicht unumstrittene Jamaika-Verhandlerteam auf Bundesebene wurde gar nicht erst angesprochen; die direkte gewählte Bundestagsabgeordnete aus Friedrichshain-Kreuzberg und prominente Parteilinke, Canan Bayram, ist krank und nicht vor Ort.
In ihrem zweiten wichtigen Antrag fordern die Grünen mehr Engagement für die Integration von Geflüchteten, ein Thema, für das im Senat die Linkspartei zuständig ist. Im Vorfeld des Parteitags hatte es Unstimmigkeiten gegeben, inwiefern der Antrag ein Angriff auf den Koalitionspartner und insbesondere die zuständige Senatorin Elke Breitenbach war. „Wir wollen, dass da mehr passiert“, hatte Parteichef Werner Graf im taz-Interview vorab gesagt. Am Samstag betont Graf, die Grünen wollen bei diesem Thema nicht verstummen, Veränderungen aber mit Breitenbach, nicht gegen sie anzustreben.
Ende des Kopftuchverbots
In dem Antrag wird zudem die Abschaffung des sogenannten Berliner Neutralitätsgesetzes verlangt, also etwa das Verbot für Lehrerinnen, ein Kopftuch zu tragen. „Nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts“ lasse sich dieses pauschale Verbot nicht mehr halten, heißt es darin. Auch das scheint Konsens zu sein in der Partei – zumindest spielt das Thema keine Rolle in der Debatte. „Ich möchte, dass es Lehrerinnen mit Kopftuch gibt. Und ich erwarte zugleich, dass sie die Religionsfreiheit von Schülerinnen verteidigen, die kein Kopftuch tragen wollen“, beschreibt die frühere Landeschefin Bettina Jarrasch die Anforderungen an die Realität. Aber kann man das umsetzen? Die Debatte dürfte die Grünen noch einholen.
Doch für diesen Tag hat Parteichefin Nina Stahr recht behalten. Sie hatte im Vorgespräch einen harmonischen Parteitag prophezeit: „Die Mitglieder sind ziemlich begeistert von dem, was wir an der Regierung machen.“ Unnötig war ihre Warnung, dass die Zeitplanung für den Samstag nur ein grober Rahmen sei und Verzögerungen natürlich immer drin seien. „Wir sind ja bei den Grünen.“ Tatsächlich sind die Delegierten ihrer Zeit meist um mehr als eine Stunde voraus. So geht Party auf politisch.
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