: Berliner Realitäten
Vom Furor zum Weingenuss: Ulrich Peltzer schreibt mit „Alle oder keiner“ den Roman seiner Generation fort ■ Von Dirk Knipphals
Ulrich Peltzer gehört zu den Schriftstellern, die viel gelobt, aber wenig gelesen werden, und wenn das bei dem neuen Roman „Alle oder keiner“, seinem dritten, wieder so ist, dann wäre zumindest Letzteres nicht nur schade, sondern auch erklärungsbedürftig. Denn viel aktueller und lebenswirklicher als hier kann ein deutsches Romanpersonal derzeit kaum sein. Als typischer, durch Frankfurter Schule und 68er-Ausläufer sozialisierter Leser dürften einem die geschilderten Figuren vertraut vorkommen.
Der Roman setzt ein mit einer Demonstration im Baskenland. Bernhard, die Hauptfigur, nimmt daran teil. Es kommt zu harten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften, denn in die damaligen, politisch aufgeladenen Zeiten ist gerade die Nachricht vom Chemieunglück in Seveso hereingebrochen. Und der Roman endet in einer umgebauten Fabriketage in Berlin-Kreuzberg, in der sich Bernhard zur Jetztzeit nach einer Beziehungskrise zur Untermiete wiederfindet. Man kocht gut, hat sich komfortabel eingerichtet im Leben und leert bei Gelegenheit günstig im Kaufhaus des Westens erstandene Weinraritäten.
Von den Barrikaden zu den Lebensfreuden der Toskanafraktion: Nicht chronologisch, aber bei allen Zeitsprüngen und Umwegen doch sehr gut zu rekonstruieren, läuft während der Lektüre Bernhards Lebenslauf vor einem ab; man ist versucht, ihn als typischen Vertreter der Generation der heute Vierzigjährigen zu bezeichnen. Politisierten Jugendjahren folgen Versuche, die gesellschaftskritischen Impulse auch praktisch umzusetzen. Bernhard interessiert sich für den „Zusammenhang von Irresein und Unterdrückung“ und studiert Psychologie. Doch, wie es so kommt, irgendwann geht der Furor verloren und Bernhards Tätigkeit erschöpft sich in der Mitarbeit an einem Handbuch der Forensik. Es soll bei der Entscheidung helfen, wann ein Straftäter schuldfähig gesprochen werden muss. Auf fünf Jahre ist Bernhards Stelle begrenzt. Vier Jahre sind nun um. Was danach kommt, wird man sehen – wie alles im Leben.
Ulrich Peltzer erweist sich in diesem Buch als getreuer Chronist seiner Generation, aber sein schriftstellerischer Ehrgeiz will mehr. Wer denkt, Peltzer habe eine sentimentale Klageschrift über Utopieverluste oder eine feurige Abrechnung mit seiner Generation verfasst, der irrt. Vor jeder simplen literarischen Identifikation mit einem wie auch immer gearteten Lebensgefühl bewahrt diesen Autor seine Neugier, seine Reflektiertheit in dem, was er tut, und seine Lust auf Genauigkeit. Es gibt „keine Instanz mehr, die vorschrieb, ... wie etwas richtig darzustellen sei“, heißt es an einer Stelle. Diese Freiheit nutzt Peltzer weidlich aus.
Manchmal umkreist er seine Figuren mit Sätzen, die sich über zwei Drittel einer Seite erstrecken. Im Zweifelsfall entscheidet er sich für die Wahrhaftigkeit seiner Beschreibungen, nicht für das Tempo oder die Spannung der Geschichte. Der Wille zur Exaktheit, den dieses Buch beherrscht, ist wirklich erstaunlich. Peltzer beschreibt seine Figuren nicht einfach, er seziert sie. Und so ist „Alle oder keiner“ ein stellenweise anstrengendes, stellenweise wunderschönes Buch, das aber stets Glaubwürdigkeit vermittelt. Kein sentimentaler Blick zurück, sondern ein ernstes Nachhorchen einzelner biografischer Entwicklungsschritte. Genausowenig wie seine Figuren lässt sich der Autor mit zwei, drei Etiketten abschließend einordnen.
Wo es versucht wird, indem Rezensenten Vergleiche mit „Berlin Alexanderplatz“ oder sogar „Ulysses“ anstellen, hat das nicht nur etwas Musterschülerhaftes, sondern auch Vorschnelles. Es stimmt schon, das Thema Großstadt hat es Peltzer angetan. Es stimmt auch, dass er einen emphatischen Begriff von Literatur zu haben scheint; wenn dieser Autor einer Gefahr nicht immer ausweichen kann, dann ist es die, hochgestochene literarische Beschreibungsmuster bedienen zu wollen, wann immer sich die Möglichkeit dazu bietet. Doch erkennbar ist hier jemand angetreten, seinen ganz eigenen Weg zu verfolgen.
Seinen ersten Roman, „Die Sünden der Faulheit“, schrieb Peltzer 1987. Es wurde von der Kritik als „definitives Berlin-Buch“ der Achtzigerjahre gefeiert. Davon hätte Peltzer nun, er war 31 Jahre alt und lebte in der damals noch geteilten Stadt, alle zwei Jahre sicher eine neue Ausgabe abliefern können. Doch Peltzer veröffentlichte acht Jahre lang – nichts. 1995 erschien dann „Stefan Martinez“, ein 570 Seiten dicker Ziegelstein, der wieder in Berlin spielt, in dem aber – 1995! – der Fall der Mauer noch nicht einmal vorkommt.
Dafür beinhaltete „Stefan Martinez“ unter dem Vorwand, zwei Tage im Leben der Titelfigur schildern zu wollen, ein Sammelsurium quer durch alle Techniken des modernen Romanschreibens, vom Bewusstseinsstrom bis zur Reduktion auf den simplen Dialog, von grafischen Spielereien bis hin zum vielfältigen Perspektivenwechsel. Ein merkwürdig sperriges, aber auch verspieltes, vor allem aber, da damals das halbe literarische Deutschland auf den Berliner Wenderoman wartete, seltsam aus der Zeit gefallenes Buch.
Und nun also der dritte, wiederum ganz anders geratene Roman. Ulrich Peltzer scheint – so treu er seinen Schauplätzen, seiner Stadt Berlin und seiner Generation auch bleibt – mit jedem Buch sein Schreiben vom Stil her neu erfinden zu wollen. Dagegen ist auch nichts zu sagen. Vor allem dann nicht, wenn etwas so Interessantes herauskommt wie hier. Nur etwas an „Alle oder keiner“ ist ein wenig zu platt geraten, das ist der Schluss. „Erzähl' mir, das dürfte doch nicht so kompliziert sein, wie geht die Geschichte“, fordert da eine Christine den Erzähler auf. Dass Bernhards Lebensgeschichte aber natürlich doch kompliziert gewesen war, auch wenn sie einfach scheint, darauf weist Peltzer hier am Ende ex negativo überdeutlich hin. Und den Titel „Alle oder keiner“ habe ich nicht so recht verstanden. Der Rest aber ist unbedingt empfehlenswert.
Ulrich Peltzer: „Alle oder keiner“. Ammann Verlag 1999. 246 Seiten. 36 DM
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