Berliner Karneval: Hejo, so irre sind Berliner Narren
Hunderttausende Berliner feiern eine Woche zu früh Karneval. Im Einheitslook kämpfen sie um Kamelle. Humor bleibt dabei außen vor.
Am Sonntagmorgen um 11 Uhr ist es noch relativ ruhig auf den Straßen Berlins. Kaum vorstellbar, dass in einer halben Stunde rund 50 Festwagen vom Ernst-Reuter Platz losrollen, um Berlin eine Woche vor dem eigentlichen Rosenmontag in eine Karnevalsstadt zu verwandeln.
Die Besucher des Berliner Karnevals haben sich einheitlich als Berliner verkleidet. Schwarzer Mantel, khaki farbene Hose, manchmal ein farbiger Schal. Als ausgefallenes Kostüm gilt schon eine bunte Perücke oder ein Federhut. "Für mehr haben wir kein Geld", beklagt eine Besucherin mit heute lilanem Haar. Nur die kleinen Besucher treten als Prinzessin oder Cowboy auf. "Die stecken nur ihre Kinder in Kostüme", beklagt Mathias Kornmaier. Der als Shaun das Schaf verkleidete Exil-Rheinländer hat aber noch Hoffnung für den Berliner Karneval: "Es werden jedes Jahr mehr Kostüme." Judith Schmidt, die an diesem sonnigen Vormittag in einem Clownskostüm steckt, fühlt sich unwohl in ihrer Verkleidung. "Ich war die einzige in der U-Bahn, die ein Kostüm anhatte", bedauert die Berliner Närrin.
Wenig Originalität zeigt sich auch bei der Musikauswahl. Nicht Berliner, sondern Kölner Karnevalslieder dröhnen von den Festwagen. Etwas verhalten singen die Besucher bei "Viva Colonia!" und "Superjeile Zick" mit. Ein eigener Karnevalshit fehlt noch. Dafür drehen vereinzelte Besucher bei dem Fan-Song "Hey, wir wollen die Eisbären sehen" richtig auf und grölen laut mit. Es gibt keinen eigenen Karnevalssong, dafür aber einen eigenen Karnevalsruf. Doch selbst das "Berlin - Hejo!" wird vom Mainzer "Helau" oder Kölner "Alaaf" übertönt. Nur sehr verhalten rufen die Berliner Heiterkeit und Jokus in die Welt hinaus.
Wenn auch nicht aus der Lust am Verkleiden oder Feiern, sind die zahlreichen Besucher doch aus einem Grund gekommen: Kamelle. Die Süßigkeitenschlacht ersetzt den Kostümwettbewerb. Wie verrückt stürzen sich die Besucher lange vor dem Beginn der 40-tägigen Fastenzeit auf Kaubonbons, Popcorn und Chips. Mancher Narr bekommt steinharte Weihnachtsspekulatius an den Kopf geworfen. Das Berliner Prinzenpaar verteilt seine Kamelle ausschließlich an kostümierte Besucher. Viele Süßigkeiten werden sie heute nicht los.
Ähnlich verhalten wie die Berliner Narren sind auch die Festwagen. Der Sunari-Chor-Wagen verspricht: "Wir machen Spaß." An der Umsetzung hapert es nocht etwas. Nur vereinzelte Wagen sind ein Blickfang. Geschimpft wird über die Berliner S-Bahn, die zwischen zwei Pobacken geklemmt im Arsch ist. Auch Karl-Theodor zu Guttenberg kommt nicht gut weg. Neben einer Karrikatur von ihm steht: "Nun hat er keinen Doktor mehr, ist nur noch bei der Bundeswehr."
Der Lichtenberger Karnevalsclub ködert die Blicke auf seinen Wagen, indem er die gierigen Berliner besticht: "Ihr müsst schon hingucken, wenn ihr Kamelle wollt", tönt es vom Wagen. Den Abschluss der Festwagen bilden die Reinigungsfahrzeuge der Berliner Müllentsorgung. Bonbonpapier wird eingesammelt, das wenige Konfetti weggefegt. Damit sind alle Spuren verwischt, die verraten könnten, dass die Berliner heute ein bischen närrisch waren.
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