Berliner Behindertenparlament 2023: Ein leicht verständlicher Austausch

In Berlin haben sich 100 Menschen mit Behinderungen versammelt, um über Inklusion zu diskutieren. Präsident Christian Specht hat dafür lange gekämpft.

Menschen im Parlament

Gelebte Teilhabe: Stimmberechtigte des Behindertenparlaments am 03.12 im Abgeordnetetenhaus Berlin Foto: Fabian Sommer/dpa

BERLIN taz | Christian Specht steht stolz auf dem roten Teppich im Eingangsbereich des Berliner Abgeordnetenhaus. In einer Videobotschaft, unterlegt mit dynamischer Musik, sagt er kämpferisch in die Kamera: „Wir brauchen noch mehr Erfolg, dann hören die Leute uns mehr zu und nehmen uns ernst.“

Christian Specht setzt sich seit Jahrzehnten für die politischen Belange von Menschen mit Behinderungen ein. Auch in der taz meldet er sich regelmäßig in Bildkolumnen oder auf Redaktionskonferenzen zu Wort, sein Schreibtisch hat seit Langem einen festen Platz im Haus. An diesem Samstag, am Vorabend des Internationalen Tags für Menschen mit Behinderungen, sitzt er auf dem Podium im Plenarsaal des Abgeordnetenhauses und präsidiert über das Berliner Behindertenparlament.

100 Menschen mit Behinderungen haben sich hier versammelt, um über Inklusion zu diskutieren und diese einzufordern. Dafür sind die Berliner Senatorin für Bildung Katharina Günther-Wünsch (CDU) sowie Staatssekretärinnen für Gesundheit und Pflege, für Kultur sowie für Wohnen und Inneres gekommen, um Rede und Antwort zu stehen. Auch die Berliner Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) ist mit dabei.

Neben einer Fragerunde an die Po­li­ti­ke­r:in­nen steht die Diskussion und Abstimmung neuer Anträge auf dem Programm. Um an dem Parlament teilzunehmen, hatten sich 200 Menschen mit Behinderungen, deren Angehörige und Un­ter­stüt­ze­r:in­nen im Vorfeld beworben. Die Stimmberechtigten wurden per Losverfahren ausgewählt.

Das Thema gelebte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen treibt Christian Specht, Präsident und Initiator des Parlaments, schon lange um. Inspiriert von einem Besuch beim Bremer Behindertenparlament 2018, machte sich Specht auf die Suche nach Mitstreiter:innen, um ein ähnliches Format in Berlin auf die Beine zu stellen. Dieses Jahr kommt das Berliner Behindertenparlament bereits zum dritten Mal zusammen.

Lücken im Sozialsystem werden sichtbar

Damit alle dem Inhalt folgen können, gibt es neben der Standardsprache auch Dolmetschungen in Gebärdensprache, Leichter Sprache, Schriftsprache. Für Pausen gibt es einen Ruheraum. Doch ruhig geht es im Plenarsaal nicht gerade zu: „Wenn ein Elternteil seinen Job aufgibt, weil die Verwaltung keine Pflegeassistenz organisiert bekommt, ist das ein politischer Skandal“, sagt ein sehbehinderter Mann bei der Fragerunde und erntet dafür viel Applaus. Eine Teilnehmerin hatte zuvor einen solchen Fall geschildert. Seit drei Jahren warten die Eltern darauf, dass die Senatsverwaltung der schulpflichtigen Tochter eine Pflegekraft organisiert. Nun musste ein Elternteil seinen Beruf aufgeben.

Fehlende Sozialleistungen, mangelnde Barrierefreiheit bei Arztpraxen, nicht genügend rollstuhlgerechte Wohnungen – bei der Fragerunde werden viele Lücken im Sozialsystem sichtbar, unter denen Menschen mit Behinderungen leiden. Aber es kommen auch Themen aus anderen Bereichen zur Sprache. Was plant Berlin zum Thema Katastrophenschutz für Menschen mit Behinderungen, will eine der Teilnehmerinnen wissen. Wann wird sich das Onlineticketsystem für die Buchung von Tickets für Roll­stuhl­fah­re­r:in­nen verbessern, fragt jemand anderes. „Ich hoffe, ich kann beim nächsten Behindertenparlament berichten, dass wir sehr viel weiter gekommen sind“, sagt die Staatssekretärin für Kultur. Für Aufregung sorgt der Spontanbesuch von Bürgermeister Kai Wegner (CDU). „Es geht darum, Inklusion tatsächlich zu leben, und ich würde mich freuen, wenn wir weiter vorankommen“, betont er in einer kurzen Rede.

Wirklich ins Gespräch kommen die Teilnehmenden mit den Po­li­ti­ke­r:in­nen aber erst in den Pausen. Die meisten tummeln sich um Ellen Haußdörfer, zuständig für Gesundheit und Pflege. Sie ist seit sieben Monaten Staatssekretärin. Sie lobt das Format, weil sie so die verschiedenen Bedürfnisse von Betroffenen besser verstünde: „Wir können gar nicht in Gänze nachvollziehen, was diese Menschen mit ihren Familien und Angehörigen durchleben, weil sie sich nicht gehört fühlen“, sagt sie.

 Teilnehmer des Parlaments

„Das ist wirklich phänomenal hier“

Die komplexen Verwaltungsstrukturen und Zuständigkeiten stellen immer wieder Hürden dar, wie etwa in dem Fall der Berliner Schülerin ohne schulische Pflegebetreuung. Das sieht die Senatorin für Bildung, Jugend und Familie Katharina Günther-Wünsch (CDU), ähnlich. „Wenn Kinder diesen Förderbedarf haben, dann müssen wir da alle Akteure an den Tisch holen, um gemeinsam eine Lösung zu erarbeiten“, sagt sie.

Die Teilnehmenden sind zufrieden: „Das ist wirklich phänomenal hier“, lobt einer die Politiker:innen. Am Nachmittag geht es etwas nüchterner weiter. Das Parlament zieht Bilanz über die siebzehn Anträge aus dem letzten Jahr. Und die sieht nicht allzu gut aus: Auf drei von siebzehn Anträgen gibt die Senatsverwaltung gar keine Antworten, keiner der Anträge wurde in die Tat umgesetzt, nur drei wurden ansatzweise auf den Weg gebracht.

Das hat das Parlament aber nicht davon abgehalten, neue Anträge zu verfassen. Dieses Jahr sind es aber nur sieben, die unter anderem mehr Anstrengungen für einen inklusiven Arbeitsmarkt, mehr Beteiligungsrechte für Menschen mit Behinderungen sowie mehr Zugang zu Sportstätten und -aktivitäten fordern. Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe hört sich die Anträge geduldig an und versichert, diese an die Senatsverwaltung weiterzutragen. Wie viele diesmal unbeantwortet bleiben, wird sich zeigen.

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