Ungleiche Schwestern

Das österreichische Schizophrenie-Drama „Der Boden unter den Füßen“ von Marie Kreutzer (Wettbewerb)

V. Pachner Foto: Abb.: Zebra/Novotnyfilm/Berlinale 2019

Von Carolin Weidner

Doch tut das Dämmern meinem Innern wohl …“ Die Verszeile stammt von Conny, aber die ist nicht im Bild, während sie zu hören ist. Sondern Lola, ihre Schwester, die im morgendlichen Dämmerlicht durch einen Wiener Schlosspark joggt. Conny und Lola, gespielt von Pia Hierzegger und Valerie Pachner, denen man die Verwandtschaft trotz Grundverschiedenheit abnimmt, sind auf eine Art verbunden (und gleichsam getrennt), wie es das Kino gerne anstellt: Die eine angestrahlt und mit hellem Haar, glänzend und erfolgreich; die andere eher verschattet, problematisch, gefährdet. Dass die österreichische Regisseurin Marie Kreutzer beide direkt am Anfang ihres Films „Der Boden unter den Füßen“ in der Dämmerung versetzt, ist Bestandsaufnahme und Omen zugleich.

Lola, obwohl jünger als Conny, ist seit einigen Jahren deren rechtmäßiger Vormund. Die große Schwester leidet unter Schizophrenie und Paranoia, in ihrer Wohnung, die auch die einer älteren Frau sein könnte, stapeln sich die Medikamentenpackungen, es liegen Notizen verstreut und eine rote Katze streift umher. Jetzt hat sich Conny 120 Pillen einverleibt – und landet in der Psychiatrie. Neben der Spur ist auch Lolas Leben, aber es mutet, oberflächlich betrachtet, wie das genaue Gegenteil an: eine Überholspur. Lola ist eine perfekt in Businessoutfits gekleidete aufstrebende Unternehmensberaterin, die sich mit ihrem Team gerade an ein neues Projekt in Rostock gemacht hat. Von hier wird sich entscheiden, wie es mit ihr (und vielleicht auch mit Chefin Elise, mit der sie eine Liebesbeziehung eingegangen ist) weitergehen wird: Sydney oder Hildesheim. Top oder Flop.

In Kreutzers Film begegnen sich extreme Effizienz (trotz Schlafmangel treibt sich Lola vor Arbeitsbeginn beim Sport den Schweiß aus die Poren) und die Unfähigkeit, überhaupt einen Einkauf zu erledigen. Beide haben etwas miteinander zu tun. „Wir alle bemühen uns die ganze Zeit, perfekt zu sein. Und die Frauen, die leugnen, dass es ein Kampf ist, sind diejenigen, die mich gleichzeitig irritieren und faszinieren“, sagt Kreutzer. Lola ist Inbegriff dieser Schizophrenie. Dass ein solches Verhalten kein Wahnsinn ist, sondern unter anderem ein Symptom der Geschlechter­ungleichheit, auch das zeigt Kreutzers Film. Einmal sogar ganz drastisch, am Pissoir, als Lolas Kollege ihr sein schlaffes Glied entgegenhält: Ob sie denn immer noch nicht verstanden hätte, was der Unterschied zwischen ihnen sei.

17. 2., 13.30 Uhr, Haus der Berliner Festspiele