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Berlin und die Europawahl (1)Spuren der EU im Einkaufskorb

Die Richtlinien der Europäischen Union begleiten uns täglich - zum Beispiel beim Einkaufen. Im Zentrum: die Verpackung. Ein Streifzug durch einen Supermarkt.

Was in den Einkaufskorb kommt, bestimmt die EU mit. Bild: AP

Europawahl

Am 4. Juni beginnen in der Europäischen Union die Wahlen zum Europaparlament. In Deutschland wird am Sonntag, 7. Juni, gewählt.

Derzeit sitzen 785 Abgeordnete im Europaparlament, gewählt für fünf Jahre. 99 davon hat Deutschland entsandt, 5 Vertreter kommen aus Berlin.

Rund 2,45 Millionen Berliner sind zur Wahl aufgerufen, davon sind rund 135.000 in Berlin lebende nichtdeutsche EU-Bürger. Sie entscheiden über 31 Parteien und politische Vereinigungen.

Der Stimmzettel für die Europawahl wird der längste, den es bislang in Berlin gab: Komplett entfaltet misst er 94 Zentimeter.

Wenn die Brandenburger Spargelbauern am 24. Juni ihre Saison beenden, dürfen sie aufatmen. Denn sie war die letzte, in der beim Verkauf des Spargels eine der bekanntesten EU-Richtlinien beachtet werden musste: der Krümmungsgrad von Obst und Gemüse. Ab Juli darf neben dem Normspargel und der Einheitsgurke, die auf zehn Zentimetern maximale zehn Millimeter Krümmung aufweist, auch vieles, was zu krumm, zu klein oder zu groß geraten ist, in die Kiste. 26 Sorten von Obst und Gemüse, die seit 1988 möglichst einheitlich zu wachsen hatten, dürfen in ihrer Form wieder etwas Anarchie walten lassen und trotzdem über die Ladentheke gehen.

Franziska Bock vom Europäischen Informationszentrum in Berlin blickt in einem Supermarktes an der Mohrenstraße in Berlin-Mitte über die aufgetürmten Spargelkisten hinweg. Im Hintergrund dudelt seichte Musik, das Publikum besteht vorwiegend aus Rentnern, die ihre Einkäufe in die Körbe von Rollatoren statt in Einkaufswagen legen. Ansonsten sind noch Touristen da, die nur ein Auge für die Regale mit Fertigprodukten haben. Doch Franziska Bock geht es gerade um Gurken und Spargel. Denn die Festlegung des Krümmungsgrades ist besonders beliebt, wenn es darum geht, eine Brüsseler Regelungswut zu diagnostizieren. Ein Vorwurf, gegen den sich Bock vehement wehrt.

"Die Regelung war eine ganz pragmatische Angelegenheit, die auf eine Initiative des Handels zurückging", erklärt sie. Der habe ein starkes Interesse daran gehabt, dass das Gemüse nicht nur in die standardisierten Kisten passe, sondern auch auf einen Blick zu erkennen sei, wie viele Gurken gerade in der Kiste sind. Ein Umdenken gab es nun vor allem durch steigende Lebensmittelpreise. Es mache in Zeiten steigender Nachfrage nach Lebensmitteln keinen Sinn, Produkte wegzuwerfen oder zu vernichten, "nur weil sie die falsche Form haben", erklärte EU-Agrarkommissarin Mariann Fischer Boel im vergangenen Jahr, als es um die Abschaffung der EU-Norm ging. Sie und die EU-Staaten, die schließlich für die Abschaffung stimmten, bewerteten die Möglichkeit der Verbraucher, günstige Lebensmittel zu erhalten, höher als das Interesse des Handels, die Waren einfach zu verpacken.

Ein Großteil der Regelungen im Lebensmittelbereich betrifft laut Bock dennoch den Verbraucherschutz, erzählt sie auf dem Weg zum Regal mit den Früchstückscerealien. Und fast alle dieser Regelungen sind für den Verbraucher längst selbstverständlich. Als Beweis zieht Bock eine Packung von den zwei Dutzend unterschiedlichen Müslisorten aus dem Regal. Das Haltbarkeitsdatum, die Nährwertangaben, die Zutatenliste, der Hersteller und die Füllmenge - alle diese Angaben beruhen auf einer Richtlinie oder Verordnung der Europäischen Union. "Zu den neueren Regelungen gehört der Hinweis für Allergiker, welche Stoffe in Spuren vorhanden sein können", erklärt Bock. Dass die Vorschrift noch nicht von sämtlichen Mitgliedsstaaten umgesetzt wurde, zeigen Produkte, die in mehreren Ländern vertrieben werden: In einigen Sprachen ist der Allergie-Hinweis schon aufgedruckt, in anderen noch nicht.

Am Käseregal erwartet Bock der Praxistest. Eine ältere Frau steuert auf die Expertin zu. Sie habe ihre Brille vergessen und könne auf der Packung die Mengenangabe nicht finden. Bock dreht und wendet die Tüte mit geraspeltem Käse, eine Gewichtsangabe ist nicht zu sehen. Erst das Preisschild am Regal hilft weiter: 200 Gramm sind in der Packung.

Dass der Käse nur als "geraspelt", nicht aber als Parmesan angepriesen wird, hängt ebenfalls mit der EU zusammen. Das Europa-Recht ermöglicht es Herstellern, regionale Produkte und ihre Bezeichnungen zu schützen. Parmesan kommt daher nur aus der italienischen Region Parmigiano - und die Spreewaldgurke nur aus dem Spreewald. Bock zeigt auf ein kleines Logo auf dem Etikett eines Gurkenglases, das ein Feld auf blauem Hintergrund, umringt von gelben Sternen, zeigt. "Geschützte geographische Angabe", steht an seinem Rand. Dass es für Nachahmer auch so noch reichlich Möglichkeiten gibt, beweisen die Gurkengläser weiter rechts im Regal: Gurken "nach russischer Art" und Gurkensalat "Dänische Art" - beide nicht unbedingt aus Russland oder aus Dänemark.

Nun ist Bocks Jagdinstinkt erwacht. Sie weiß: Es gibt nicht nur ein Logo für regionale Produkte, sondern ein ganz ähnliches für solche aus biologischem Anbau. Doch das Zeichen ist nicht zu finden. Weder auf Mehl oder Brot noch auf Milch oder Käse und auch nicht bei den Konserven. "Ein Bio-Siegel von der EU? Hab ich keine Ahnung", sagt ein Verkäufer. Seiner Kollegin am Kühlregal beschreibt Bock ganz genau, wie das Zeichen aussehen soll: rund und blau, mit einer gelben Ähre in der Mitte und Sternen am Rand. Doch auch sie findet nur ein Produkt mit dem regionalen Logo. Aus dem Büro des Marktleiters kommen mittlerweile kritische Blicke in Anbetracht der Gestalten, die sich im Supermarkt ohne Kaufabsicht bewegen.

Bock hat schließlich eine Idee: Welches Produkt gibt es, das nicht in Deutschland hergestellt ist, daher nicht das deutsche Bio-Siegel trägt, sondern aus dem Ausland kommt und nicht ausschließlich in deutschen Supermärkten steht? Wein. Und tatsächlich. Eine einzige Sorte von spanischem Bio-Rotwein trägt das Siegel der EU. Die Expertin ist zufrieden. Auch wenn die offensichtlichen Spuren der EU manchmal am schwersten zu finden sind.

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