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Berlin revisited

Stumm und Schwarzweiß ist wieder in: Der Regisseur Thomas Schadt dreht zurzeit seinen Film „Berlin: Sinfonie einer Großstadt“ – ein Remake von Walter Ruttmanns 1927 entstandenem Klassiker

von LASSE OLE HEMPEL

„Von welchem Sender kommt ihr denn?“ Thomas Schadt und sein Kameraassistent werden von einem Grüppchen umringt, das die Filmemacher ausfragt. „Wir drehen hier fürs Kino. Wir machen einen Stummfilm über Berlin.“ „Watt, ’n Stummfilm?“

Es ist Dienstagvormittag um halb zwölf. Heute steht Pankow auf dem Drehplan. Hier betreibt der Franziskanerorden in der Wollankstraße Nr. 14 eine Suppenküche für Obdachlose und andere Hilfsbedürftige. Das Essen wird erst um 12.45 Uhr ausgegeben. Regisseur Thomas Schadt sitzt aber schon zwei Stunden vorher hier, damit er sich möglichst gut an Ort und Leute gewöhnen kann. Seit April diesen Jahres dreht er für seinen Film „Berlin: Sinfonie einer Großstadt“, ein Remake von Walter Ruttmanns 1927 entstandenem Klassiker „Berlin. Die Sinfonie der Großstadt“. 18 Stunden Schwarzweiß-Material hat Schadt für dieses ungewöhnliche Projekt bereits belichtet. Jetzt ist Halbzeit. Ende Oktober sollen die Dreharbeiten abgeschlossen sein. Die heutige Szene wird dann nur als Detail in den 75-minütigen Bilderfluss eingehen. Schadt will vor allem eine Einstellung mit der großen Suppenschüssel, wie sie aus der Küche auf den Hof getragen wird, wo unter einem Zelt bereits Stapel von weißen Schalen stehen.

Einige, die hier hungrig auf ihre Mahlzeit warten, verlieren schnell ihre Scheu und fragen Kameraassistent Thomas Kellermann über sein Arbeitsgerät aus. Tatsächlich fällt es aus der Reihe: Die 35-mm-Kamera Marke Arriflex hat bereits 16 Jahre auf dem Buckel und sieht mit ihrem schwarzen, wuchtigen Gehäuse nach traditionellem Filmhandwerk aus. Da sie beim Drehen so laut schnurrt wie eine Nähmaschine und über keinerlei moderne Elektronik verfügt, wird sie heutzutage nur noch in Ausnahmefällen benutzt. Wie Thomas Schadts Projekt eben. Der 44-jährige Filmemacher dreht stumm, verzichtet auch sonst auf technische Spielereien und arbeitet streng fotografisch. Anstatt die Kamera zu bewegen, achtet er meist darauf, dass sich die Bewegung innerhalb des vorgegebenen Rahmens vollzieht.

Für die Szene in der Suppenküche hat er sich allerdings für die Handkamera entschieden. Langsam wandert Schadt so an der Schlange der Wartenden vorbei. Einige sehen aus wie Statisten aus dem Bilderbuch: der hoch gewachsene Mann mit dem gigantischen Sombrero auf dem Kopf etwa oder der, den man eher im Hamburger Hafen als hier in Berlin-Pankow erwarten würde: Skipper-Mütze und dazu ein dunkles Sakko mit Abzeichen. Wer hier lächelt, zeigt meist mehrere Zahnlücken.

Knut Beulich hat an gleicher Stelle kürzlich seinen 90-minütigen Dokumentarfilm „Suppe“ gedreht. Dafür hat er Interviews geführt und jeden Winkel abgelichtet. Schadt hat etwas anderes im Sinn. Dem Vorbild von Walter Ruttmann folgend, wird er aus unendlich vielen urbanen Episoden einen virtuellen Filmtag basteln, der in seiner Gesamtheit einen Ausdruck vom aktuellen Berlin geben soll. „Das ist Puzzle-Arbeit“, so Thomas Schadt, und da ja im Film bekanntlich alles möglich ist, werden so Silvester, die Love Parade, die 1.-Mai-Demonstration und auch die Essensausgabe in der Suppenküche an einem Tag stattfinden.

Um aus diesem visuellen Konzentrat ein wahres Gesamtkunstwerk zu machen, schreiben die Komponisten Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring dazu eine Partitur. Die beiden werden nicht müde zu betonen, dass diese Filmmusik nicht die Bilder illustrieren soll, sondern als zeitgenössische Großstadtsinfonie verstanden werden will. Als Vertreter der neuen Musik lassen sie in ihren Soundtrack, der zur Premiere vom Sinfonieorchester des SWR gespielt werden wird, auch Jazz- und Rockeinflüsse eingehen. Nach den Aufnahmen in der Suppenküche zieht es Schadt in die nahe gelegene Brehmestraße. Eine große, unbebaute, leere Fläche am Ende lässt erahnen, dass hier früher die Mauer stand. Zwei große Schutthügel, in einem Winkel liegen mehrere große Bauplatten. Dort, wo sich der Todesstreifen entlangzog, treffen jetzt zwei S-Bahn-Linien aufeinander. In unmittelbarer Nachbarschaft stehen zwei Häuser, deren Außenfassaden noch wie zu DDR-Zeiten von Blechverschalungen eingefasst sind. Diese Außenhüllen waren wohl einmal knallig bunt, bevor sie in diesen melancholisch vergilbten Zustand übergewechselt sind.

Schadt filmt, wie sich die vorbeifahrende S-Bahn in den Fenstern dieser Häuser spiegelt. Hinter den sorgsam gepflegten und zugezogenen Gardinen sind alte Mieter zu vermuten. Hundert Meter weiter ist bereits der ganze Block renoviert und neu in Ocker gestrichen, vielleicht auch neu vermietet. Doch selbst hier gibt es noch Relikte: Im schmucken Innenhof stehen die Reste einer nur notdürftig abgerissenen Mauer. Darüber hinweg guckt man auf den nächsten Häuserblock. Eine Bruchstelle im heutigen Berlin, die Alt und Neu sichtbar macht und ein mögliches Motiv in der neuen Berlin-Sinfonie. Diese wird keine Homage an Fortschritt und Geschwindigkeit sein, sondern ein Film, der auch mal innehält für nachdenkliche und ruhige Passagen, in denen die Vergangenheit der Stadt eine wichtige Rolle spielt. Fast 75 Jahre ist es jetzt her, dass Ruttmanns Bilderreigen in die Kinos kam; Schadt, der Ruttmanns ästhetisches Prinzip weitgehend übernimmt, steht also vor der Aufgabe, aus einer alten Idee ein neues, zeitgemäßes Produkt zu machen. Für Schadt spricht, dass sich Berlin seit Ruttmanns Zeiten so sehr verändert hat, dass die Gefahr des Plagiats per se ausgeschlossen ist. Neue Bilder zuhauf. Im April 2002 wird „Berlin: Sinfonie einer Großstadt“ in der Staatsoper Unter den Linden Premiere feiern.

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