Berlin-Tourismus und Corona: „Der Tourismus hat Berlin gutgetan“
Die an der Humboldt-Universität lehrende Stadtsoziologin Talja Blokland über die Stadt und Corona und die Abwesenheit von Reisenden.
taz: Frau Blokland, die Flughäfen sind so gut wie dicht, Hotels und Restaurants seit März geschlossen. Vermissen Sie die Touristen?
Talja Blokland: Ich weiß nicht, ob ich die Touristen vermisse. Aber in der Innenstadt, vor allem in der Gastronomie und im Hotelwesen, werden sie sicher vermisst.
Die Touristen bleiben weg, und Berlin ist im Lockdown leer und still.
Ich war an einem Samstagabend zwischen 22 Uhr und 1 Uhr mal unterwegs und wollte mir anschauen, wie es aussieht. Dabei habe ich beobachtet, dass nur Männer auf den Straßen waren. Die wenigen Frauen, die ich gesehen habe, sind schnell gelaufen. Ihre Körpersprache hat mir signalisiert, dass sie sich nicht gut gefühlt haben.
Die Angsträume verlagern sich auf die Straße?
Abends, ja. Wenn sich keine Augen auf die Straßen richten, gibt es auch keine soziale Kontrolle mehr. Ich war in der Weserstraße in Neukölln, wo es normalerweise viele Kneipen und Restaurants gibt. Und viel Licht in den Fenstern. Wenn man da jetzt nachts durchläuft, sind die Rollläden heruntergelassen. Man sieht nicht einmal, dass da normalerweise Kneipen und Restaurants wären. Das ist etwas anderes als ein öffentlicher Raum, wo man weiß, dass da auch andere sind, die einen unterstützen, wenn etwas passiert.
Sie haben dazu auch geforscht.
Wir haben kurz vor dem Lockdown eine Umfrage unter Anwohnerinnen und Anwohnern am Kottbusser Tor gemacht. Daher wissen wir, dass 94 Prozent der Menschen, die da in der Nähe wohnen, davon ausgehen, dass einer alten Dame, die auf der Straße zusammenbricht, geholfen wird. Neben der Tatsache, dass der Ort kriminalitätsbelastet ist, gibt es auch die Erfahrung, dass man sich da begegnet, dass man auf der Straße mit Fremden redet. All das ist jetzt nicht mehr da.
Das Begegnen mit Fremden ist in der Stadtsoziologie eine Definition des Städtischen. Unterschiedliche Menschen begegnen sich auf engstem Raum. Das ist jetzt nicht mehr so. Wird Berlin gerade zum Dorf?
Zum Dorf nicht. Da gibt es nicht die Anonymität wie in der Stadt, da kennt man sich. Aber auch in der Stadt gibt es normalerweise so etwas wie eine vertraute Öffentlichkeit. Die entsteht, wenn bestimmte Sachen immer da sind, der Flaschensammler zum Beispiel, der Straßenmusiker oder der Zeitungskiosk. Daran hat man sich gewöhnt. Man kennt sie nicht persönlich, aber die Situation ist einem bekannt. Das ist jetzt alles runtergefahren. Es bleibt also nur noch die Anonymität.
Welchen Anteil hat der Tourismus an dieser vertrauten Öffentlichkeit?
Die Stadtforscherin wurde 1971 in den Niederlanden geboren und ist seit 2009 Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der HU Berlin.
Einen großen. Die Infrastruktur der Stadt ist mit dem Tourismus gewachsen. Die Attraktivität Berlins hat mit seiner Lebendigkeit und dem öffentlichen Raum in der Innenstadt zu tun. Deshalb ist es auch schwierig, den Tourismus in andere Bezirke verlegen zu wollen. Es sind die Lebendigkeit, das Clubleben und die Museen, die die Touristen anziehen. Auch Kneipen, in denen sich die Touristen aufhalten und die die Berlinerinnen und Berliner vielleicht meiden, können zu diesen vertrauten Orten gehören.
Auch wenn das manchmal stört?
Wenn ich am Brandenburger Tor vorbeikomme, muss ich mit meinem Fahrrad um die Touristen herumfahren. Aber auch sie gehören zu dem Stadtbild, an das wir uns gewöhnt haben. Wenn das nicht mehr da ist, entsteht eine Leere.
Darüber hinaus hat die Attraktivität der Stadt für Touristen auch das Selbstbild positiv beeinflusst. Berlin konnte sich tatsächlich mit London, Paris und New York messen.
Ja. Man weiß, dass Berlin ein Ort ist, wo Menschen gerne hinkommen, und jetzt ist alles, warum die Menschen gerne kommen, gerade nicht da.
Lassen die Touristen die Berlinerinnen und Berliner positiver auf die eigene Stadt blicken? Oder überwiegen die negativen Begleiterscheinungen, etwa bei den Mieten und den gestiegenen Preisen?
Airbnb oder Uber haben viel kaputtgemacht. Und natürlich wurde auch Berlin an manchen Stellen zum Disneyland, wo es nur um homogenisierten Konsum geht und wo die Authentizität verdrängt wird. Da kommt man auch an eine Grenze. Umso wichtiger ist die Debatte über nachhaltigen Tourismus. Dennoch glaube ich, dass der Tourismus Berlin gutgetan hat. Viele Restaurants und die Arbeitsplätze würde es ohne Touristinnen und Touristen nicht geben.
Werden bestimmte Segmente des Städtetourismus nach der Krise vor einer ähnlichen Legitimationskrise stehen wie etwa der Après-Ski-Zirkus in Ischgl?
Auch das Clubleben in Berlin hatte eine Extravaganz. Die haben sicher ein nicht standardisiertes Publikum angesprochen. Da wird vermutlich auch schnell wieder Betrieb sein. Die Leute wissen, was sie tun, die gehen vielleicht auch bewusst ein Risiko ein. Viel schwerer wird es sein, die Leute zurückzugewinnen, die ins Museum wollen. Da könnte die Angst vor dem Fremden und den anderen Menschen größer sein als die Neugier. Wir wissen aber noch nicht, wie unterschiedlich die verschiedenen Menschen den Lockdown erfahren und was das für ihre Reisepraxis bedeutet.
Die Coronakrise, sagen manche, ist auch eine Krise der Stadt. Die Frage ist: Kommt jetzt zur Tourismuskrise noch die Legitimationskrise dazu? Dass man die Erfahrung macht, es geht auch ohne dieses Grundrauschen, ohne diese Verführungen und Ablenkungen, die einen nur Geld und Zeit kosten?
Die Luxuserfahrung, dass die Ruhe doch so schön ist, machen bestimmt welche. Auch werden manche vielleicht nach der Krise lieber mit dem Laptop zu Hause sitzen als im Café. Aber ein Großteil der Berliner steht in der Existenzkrise. Wir haben etwa 10.000 Taxifahrer, die vor dem Nichts stehen. Oder die ganzen Kneipen im Kiez. Die wissen nicht, wie es weitergehen soll, und sind verzweifelt. Sie leben schließlich von den Besuchern, auch von den Touristen.
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