Berlin-Spandau: In Wegners Wohnzimmer
Mit Kai Wegner könnte ein gebürtiger Spandauer Berlins Bürgermeister werden. Wie ticken dort die Wähler*innen? Auf Spurensuche in seinem altem Kiez.
Kai Wegner ist eine Heimkuh. Der Berliner CDU-Chef kam im Spandauer Ortsteil Hakenfelde zur Welt, büffelte hier in der Hans-Carossa-Oberschule und ist dem Bezirk bis heute treu geblieben. Bei der Berlin-Wahl feierte er einen Heimsieg.
In Westberlin überraschte Spandau mit einem eindeutigen Ergebnis. Fast jede zweite Wählerin machte am 12. Februar ihr Kreuz bei der CDU. Nur in Reinickendorf wählten mehr Berliner*innen konservativ. Beide Bezirke stehen sinnbildlich für den Erfolg der Partei in den äußeren Bezirken.
Zynisch ziehen Beobachter*innen bereits die neue Berliner Mauer entlang des S-Bahn-Rings hoch. Zugegeben, auf den ersten Blick vermittelt die Wahl-Landkarte den Eindruck, Berlin sei eine geteilte Stadt, in der die Bezirke außerhalb des S-Bahn-Rings wenig gemein haben mit den inneren. Und dass Berlin bei diesen CDU-Ergebnissen doch nicht so „links-grün-versifft“ sein könnte, wie Kritiker*innen spotten und Zugezogene prahlen.
Es lohnt sich ein genauer Blick: Eine Hochrechnung des Tagesspiegels ergab, dass in Anbetracht der Wahlbeteiligung und des Fakts, dass ein Drittel der Berliner*innen nicht wahlberechtig ist, insgesamt nur 11 Prozent der Bürger*innen die CDU wählten. Trotzdem gibt es sie, die Berliner Christdemokrat*innen, und sehr wahrscheinlich in Wegners Wohnzimmer Spandau.
Über Politik reden will zunächst niemand
Die Spurensuche beginnt vor dem Spandauer Bezirksamtsgebäude. Auf dem Wochenmarkt bieten Dutzende Stände ihre Kostbarkeiten an. Menschen sammeln sich an Imbissstehtischen, inspizieren T-Shirts, Jogginghosen, Wollpullover und wühlen in der Kartoffelkiste. Nebenan auf der achtspurigen Kreuzung warten die Autos auf die Grünphase, und unermüdlich spuckt der Spandauer Bahnhof Menschen aus. Doch über Politik will weder auf dem Wochenmarkt noch in der angrenzenden Altstadt zunächst niemand reden.
Im Gemeinschaftsraum des Seniorenklubs „Lindenufer“ im Zentrum Spandaus sind die Menschen offener. Von der Decke hängen goldene und silberne Glitzersterne und Lametta, der Linoleoumboden quietscht unter den Turnschuhsohlen. Lässiger Lambada und Saxofonsoli tönen durch den Raum, in dem nur die Mandarinenschnitten in der Kuchenvitrine daran erinnern, dass hier auch gegessen wird. Heute ist Tanzeinheit, und die Tänzerinnen sind gesprächig.
Johanna Schmidtchen steht an der Tür und sammelt Geld ein. Die Münzen klimpern in der kleinen Kasse, während die Tänzerinnen eintrudeln und ihre Namen in der Teilnehmerinnenliste eintragen. Schmidtchen hat kurze weiße Haare und trägt silberne Ohrringe. Auf dem T-Shirt der 82-Jährigen steht in Großbuchstaben „GIRLPOWER“. 1960 zog sie aus Ljubljana nach Berlin. „Ich mag die alle nicht von der CDU, den Kai Wegner auch nicht“, sagt Schmidtchen. Seitdem sie die deutsche Staatsbürgerschaft hat, wählt sie SPD. Die Regierung um Franziska Giffey habe zu wenig Zeit gehabt, findet sie. „Sie wurden ins kalte Wasser geworden, was sollen die schon schaffen in einem Jahr?“
An Schmidtchens Seite steht im blauen Trikot und schwarzer Jogginghose Claudia Will. „Das ist meine Schwiegertochter“, sagt Schmidtchen und lächelt breit. Will leitet die Einheit und begrüßt die Teilnehmerinnen. Dann fällt der Satz. „Ich habe CDU gewählt“. Zum ersten Mal in ihrem Leben – in der Hoffnung, dass sich was ändere. Zu viel Kriminalität herrsche in Spandau, und die Parks seien dreckig. „Die CDU war die einzige Alternative. Die AfD wählen geht nicht und darunter auch nicht“, sagt Will. „Man weiß im Grunde nicht, was man tun soll, und nimmt einen Strohhalm.“ Die CDU als letzter Strohhalm also – Überzeugung klingt anders.
Im Vorbeigehen mischt sich Siegrid ein. „Wenn die jetzt auf ihrem Sessel kleben bleiben, ist das nicht in Ordnung“, sagt sie und meint damit auch Carola Brückner. Die SPD-Politikerin ist seit 2021 Bezirksbürgermeisterin in Spandau. Damals holte sie 399 Stimmen mehr als ihr CDU-Konkurrent Frank Bewig. Anderthalb Jahre später muss sich Brückner mit 16 Prozent Stimmen weniger geschlagen geben. Ihr Amt als Bürgermeisterin darf sie dennoch bis 2026 behalten, wenn sie nicht freiwillig geht.
Ohne Tasche und Mantel kommt Siegrid zurück. Ihren ganzen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen. „Es wird böse in Berlin, wenn sich jetzt Parteien zusammentun, nur um an der Macht zu bleiben“, sagt Siegrid. Vor anderthalb Jahren wählte sie noch SPD, jetzt CDU. Damals ging es ihr um Franziska Giffey, eine tolle Frau, wie sie sagt. „Sie konnte sich aber nicht durchsetzen. In meinem Bekanntenkreis ist sie unbeliebt.“ Im Hintergrund stellen sich währenddessen die Teilnehmerinnen in zwei Reihen und mit Armbreite Abstand auf. Der Schlager „Kleine Annabelle“ von Ronny wummert aus der Stereoanlage, die ersten lockern ihre Beine und schwingen ihre Hüften. Auch Schmidtchen kommt zum Eingang. „So, wir machen jetzt die Tür zu.“
In der Grundschule mit Kai Wegner
Zu einem der zentralen Wahlkampfthemen hat Schmidtchen eine klare Meinung. „Autos sind das Schlimmste“, sagt sie. Wer aus dem Zentrum Berlins mit den Öffis nach Spandau fahren will, dem wird als Verbindung auch eine ICE-Fahrt vorgeschlagen. Wer kein Fahrrad hat, der könnte sich auf ein NextBike setzen und den kostenpflichtigen Fahrradverleih nutzen – doch das Gebiet, in denen die Fahrräder ohne Aufpreis abgestellt werden können, endet noch vor Spandau. Das Straßenbahnnetz führt nicht bis hierher, S- und U-Bahn dagegen schon. Ob der Wunsch nach einer autofreien Stadt hier am Rande Berlins ebenfalls so groß ist? Wer ein Auto besitzt, hat es in Spandau jedenfalls einfacher.
Kai Wegner lernte die Spielregeln konservativer Politik als Kreisvorsitzender der Jungen Union und der CDU Spandau, aber so ein hohes Ergebnis wie bei dieser Wahl erreichte er in seinem Geburtsort noch nie. Im Wahlbezirk Spandau 5 sammelte er 46,9 Prozent.
„Die meisten sind mit Kai in die Schule gegangen“, sagt Andreas Engel. Er sitzt am Tresen vom Gasthaus Hakenfelde. Über Wegners Wahlerfolg in Spandau wundert er sich nicht. Er deutet auf eine blonde Frau, die ebenfalls über dem Tresen hängt. „Wir waren zusammen in der Grundschule“, sagt sie.
Im Gasthaus pumpt das Radio Achtziger-Discohits. Lichterketten reflektieren in der Ritterrüstung, die neben einem alten Gewehr an der Wand hängt. Wie Claudia Will wählte auch Engel die CDU zum ersten Mal in seinem Leben. „Der Kai hat gute Ansichten“, sagt er. Außerdem hätte er gegen Giffey gestimmt. „Sie hat nicht gehalten, was sie versprochen hat. Ob Wegner das tut, weiß man auch nicht. Aber es muss sich was ändern.“
Engel ist wie Wegner in Hakenfelde geboren und lebt mit seiner Frau hier. Während er erzählt, bewegen sich seine Augenbrauen lebhaft. Sein Pullover hat dasselbe Braun wie die Inneneinrichtung des Gasthauses, in dem Engel die Angestellten duzt. Vor einiger Zeit wollte er ein Solarpaneel auf seinem Balkon anbringen, das wurde ihm aber wegen der Statik verboten. Sein Bier rührt er während des 45-minütigen Gespräches nicht an.
„Die AfD würde ich nie wählen, dann lieber die Biertrinkerpartei“, sagt Engel. Die AfD sei ihm zu radikal, er wolle keinen Hass gegen Ausländer unterstützen. Er sagt aber auch: „Wenn man Missstände anprangert, wird man gleich als Nazi abgestempelt.“ Und den Satz, den keine*r mehr hören kann: „Ich hab Ausländer als Freunde. Ich bin kein Nazi. Aber …“.
Die CDU schlüpfte im Wahlkampf in das Gewand der Protestpartei. „Endlich sagt es mal jemand“, ist ein Satz, der üblicherweise mit der AfD in Verbindung gebracht wird und den die CDU nun dankend für sich beansprucht hat. Sorgen über fehlende Sicherheit oder darüber, dass Autofahren bald verboten wird, sind für die CDU der ideale Stoff für Märchen, in denen sie als großer Retter glänzen kann. Nicht nur im Bezirk Spandau, sondern bundesweit.
Geruch von Döner, Urin und Teer
Auf der Streitstraße, auf der das Gasthaus Hakenfelde liegt, sind die Fahrbahnen in beide Richtungen zweispurig und viel befahren. Der Fahrradweg ist dagegen eng und Wurzeln kämpfen sich sichtbar durch die Pflastersteine. Engels Meinung nach gibt es dennoch Sonderrechte für Fahrradfahrer*innen und ganz besonders für die neuen E-Scooter. „Es sind die kleinen Dinge, die den Bürger stören“, sagt er. „Mein Auto und ich haben auch Rechte.“ Es gebe außerdem zu wenig Parkplätze und es sei sowieso dreckig in Berlin. Überall liege Hundekot auf den Fußwegen.
„So entstehen Bürgerkriege“, meldet sich plötzlich die Frau, die zusammen mit Wegner in der Grundschule gewesen sein will, vom Tresen aus zu Wort. „Das ist Bürgerkrieg.“ Engel ignoriert sie. Dass Berlin geteilt ist, sei dahergeredet. „Wir haben hier doch noch keine amerikanischen Verhältnisse.“
Zurück am Spandauer Bahnhof. Die ersten Verkäufer*innen schließen schon ihre Marktbuden, während der Feierabendverkehr auf der Kreuzung lärmt und sich sechs Linienbusse hintereinander an der Haltestelle stauen. Aus dem Eingang zur U-Bahn-Station steigt der Duft von Döner, Urin und Teer auf. Nach einer neuen Berliner Mauer sieht, riecht und hört sich das nicht an.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen