Berlin-Marathon und Bundestagswahl: Ein Rennen in Stille
Steffen Helbing ist gehörlos und sitzt im Rollstuhl – er nimmt am Sonntag zum vierten Mal am Berlin-Marathon teil. Und er will für die CDU in den Bundestag einziehen.
Als Steffen Helbing an diesem Sonntagmorgen auf der Straße des 17. Juni beim Berlin-Marathon startet, denkt er nicht viel. Er hat kein Ritual. Und auch keinen Glücksbringer, weil das klänge, als mache er sich Sorgen, es nicht zu schaffen. Helbing ist überzeugt, dass er das Ziel erreichen wird. Wenn er sich Sorgen macht, dann diesmal über den Berliner Himmel, bedrohlich grau und verhangen.
Oft schaut Helbing auf die Wettervorhersage, die ganze Woche schon. „Wenn es regnet, habe ich ein wahnsinniges Problem.“ Nicht wie die rund 44.000 Läufer, die eine halbe Stunde später starten werden und dann eben nasse Klamotten und über einen rutschigen Untergrund laufen müssen. Steffen Helbing fürchtet den Regen, weil er ihm das Rennen nehmen könnte.
Der 46-Jährige fährt im Rollstuhl beim Berlin-Marathon, als einer von 49 Rolli-Fahrern. Und Regen und Rollstuhl und Marathon sind eine schlechte Kombination. „Man muss immer wieder neu greifen und rutscht ab, man hat keinen Schwung. Dann muss ich aufhören. Aus technischen Gründen habe ich keine Chance.“ Es ist, als würde er ohne Spikes auf einer Eisfläche laufen.
An diesem Sonntagmorgen fährt Helbing trotzdem. Er kämpft erfolgreich gegen den Nieselregen. Noch ein anderes Rennen wird später beginnen, auch das mit unklarem Ende. Helbing hat zwei Rennen an diesem Tag. Er ist ein ungewöhnlicher Starter bei diesem 44. Berlin-Marathon, aus mehreren Gründen.
Sein Marathon läuft tonlos
Helbing ist gehörlos und gehbehindert und hat nur eine Hand, er ist der Einzige hier, der seinen Rollstuhl einarmig antreibt. 42 Kilometer lang. Eine Spezialkonstruktion macht es möglich, dass er dabei nicht im Kreis fährt. „Die Leute sagen zu mir: Mit einem Arm, das funktioniert doch nicht.“ Es funktionierte doch. Schon bei drei Berlin-Marathons.
Im besten Fall schafft er das in drei Stunden und 48 Minuten. Als Gehörloser fährt Helbing dabei ohne Orientierung an den Rufen des Publikums, ohne Applaus oder Warnrufe. Und: „Ich kann gar nicht auf das Publikum schauen, weil ich mich so auf die Straße konzentriere.“ Sein Marathon läuft tonlos.
Steffen Helbing wird noch ein zweites Rennen haben an diesem Sonntag – denn er ist auch Bundestagskandidat der CDU. Gehörlose in der Landespolitik gab es schon, in Berlin etwa Martin Vahemäe-Zierold. Aber wenn Helbing dieses Rennen gewinnt, wird er der erste gehörlose Politiker im Bundestag.
Helbing ist ein kommunikativer, enthusiastischer Typ. Zwei Tage vor dem Marathon sitzt er in einem Café, neben ihm ein Gebärdendolmetscher, der seit Langem für ihn dolmetscht. Ohne den ist die Verständigung kaum möglich: Bevor er da ist, sitzen wir schweigend. Helbing lächelt dann viel, macht Smalltalk-Kommunikation mit Handzeichen. Seine Pantomime ist gut verständlich, ein Produkt lebenslanger Übung – aber als Laie pantomimisch zu antworten frustrierend schwierig. Und auch mit Dolmetscher ist das Gespräch gewöhnungsbedürftig: Es fehlt die Intonation, es ist schwerer einzuschätzen, wie die Antwort gemeint war.
Kaum gehörlose Politiker
An solchen Barrieren dürfte es auch liegen, dass es kaum gehörlose Politiker gibt. Zwar würde man Helbing im Bundestag Gebärdendolmetscher zur Verfügung stellen, aber das Leben eines Politikers umfasst mehr Aufgaben als nur Sitzungen. Und Dolmetscher sind teuer. Einen grundsätzlichen Rechtsanspruch darauf haben Hörbehinderte nicht.
„Ganz am Anfang gab es Hindernisse“, erinnert sich Helbing. „Als ich 2012 zur CDU kam, haben sie mich alle angeschaut, und keiner wusste so richtig, was er mit mir machen sollte. Ich bin einfach ganz locker an die Sache ran gegangen. Gleich von Anfang an zu poltern und zu sagen „Ich bin behindert, ich habe Rechte“, das war nicht mein Ding.“
Mit mehr Zeit und Vertrauen habe man ihm immer häufiger Dolmetscher zur Verfügung gestellt. Spürt er trotzdem Nachteile bei Diskussionen? Nein, gebärdet Steffen Helbing. Er zitiert als Beispiel eine Wahlinformationsveranstaltung „Blaues Kamel“, an der er Anfang September mit einer Reihe Berliner Spitzenkandidaten teilnahm, da habe man wirklich gut diskutiert. Und: „Denken Sie mal, wie viele Politiker mit Dolmetscher rumlaufen, weil sie kein Chinesisch sprechen.“
Ein Rechtsanspruch auf Kommunikationshilfen für Hörbehinderte ist denn auch ein Thema, für das er sich einsetzt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Helbing tatsächlich in den Bundestag einzieht, ist allerdings nicht allzu hoch: Auf der Berliner Landesliste steht er auf Platz 12. Helbing selbst hält die Erwartungen niedrig. „Ich setze mich jetzt nicht hin und überlege: ja, nein, ja, nein. Warten wir mal ab, was passiert.“
Familie und Freunde sind da
Zu tun wird er auch so genug haben. Helbing ist ehrenamtlich zweiter Vorsitzender des ZfK Berlin und Brandenburg, dem Zentrum für Kultur und visuelle Kommunikation der Gehörlosen. In Deutschland ist er etwa verantwortlich, dass es das „Sandmännchen“ auch für Gehörlose gibt.
Ein- bis zweimal pro Woche trainiert er auf dem Tempelhofer Feld oder in Grünau für Marathon. Zuletzt musste er das ein wenig schleifen lassen, zu viele politische Termine. Helbing bedauert das. Als Jugendlicher in der DDR, als er noch laufen kann, nimmt er viel an Läufen teil, 800 Meter oder 1.500 Meter. Er sammelt Medaillen, auch einen Halbmarathon läuft er mal. „Als ich im Rollstuhl saß, habe ich es irgendwie vermisst. Ich habe überlegt: Irgendwas musst du ja tun.“
Steffen Helbing erwähnt oft seinen Ehrgeiz. „Ich sage nicht: Ich setze mich jetzt mal hin und versuche es mal. Ich gehe von vorneherein davon aus, dass ich das Ziel erreiche. Ich darf es nicht verfehlen.“ Er wird es nicht verfehlen. Und so kämpft er sich durch den Regen: Nach vier Stunden und 27 Minuten erreicht er das Ziel. Seine Familie ist da, Freunde sind gekommen. Es ist anstrengender als früher als Läufer; die Belastung wird nicht gleichmäßig auf dem Körper verteilt, sie liegt auf einem Arm. Manchmal, bei ungewohnten Bewegungen, hat er tagelang Muskelkater. Aber das Rennen ist geschafft.
Ob Steffen Helbing es in den Bundestag schafft, stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest. Aber wichtig ist ihm die Botschaft, auch beim Marathon: „Die Menschen sollen sehen, dass Leute, die eine Behinderung haben, nicht einfach nur zu Hause herumsitzen.“ Er wird wieder teilnehmen. Helbing hat Sponsoren gefunden, die ihm ein Handbike finanzieren. Es kann auch bei Regen fahren.
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