Berichte über Belästigung in Schweden: Die Folgen einer Story?
Der ehemalige Leiter des Stockholmer Stadttheaters hat sich umgebracht. Zuvor wurde er in Berichten der sexuellen Belästigung beschuldigt.
Was Carlsson als „fürchterlich traurig und ungerecht“ bezeichnet, hatte am 5. Dezember 2017 mit einem Artikel in Schwedens auflagenstärkster Tageszeitung Aftonbladet begonnen. Darin war Fredriksson beschuldigt worden, unter seiner „harten Führung“ habe sich eine „Kultur des Schweigens“ ausgebreitet, in der Mitarbeiter sexuell belästigt würden und „wiederholt männliche Schauspieler Übergriffe begehen konnten, ohne dass das Folgen hatte“. So soll Fredriksson eine schwangere Schauspielerin aufgefordert haben, ihr Kind abzutreiben, wenn sie eine bestimmte Rolle haben wolle. Eine andere berichtete, er soll sie fest an die Oberschenkel gegriffen und gesagt haben: „Frauen, die so sexy und promiskuitiv sind, habe ich gern an meinem Theater.“
Mit „Rücksicht auf die Zukunft des Kulturhuset Stadsteatern“, aber „mit gutem Gewissen“ erklärte Fredriksson nach dieser Veröffentlichung seinen Rücktritt. Die Stadt Stockholm setzte eine Untersuchungskommission ein. Deren Abschlussbericht wurde am 22. März, mehrere Tage nach Bekanntwerden seines Todes, veröffentlicht. Darin heißt es zwar, dass einige Mitarbeiter tatsächlich unzufrieden mit Fredrikssons Führungsstil gewesen sein sollen. Für sexuelle Belästigungen findet der Bericht aber keine Belege. Von diesem Ergebnis soll Fredriksson gewusst haben, heißt es aus der Stadtverwaltung.
Åsa Linderborg ist Kulturchefin des Aftonbladet. An sie hatten sich MitarbeiterInnen des Theaters mit Anschuldigungen gegen ihren Chef gewandt. Linderborg hatte daraufhin Recherchen veranlasst, die nach ihrer Einschätzung „aus einem journalistischem Blickwinkel zu einer ungewöhnlich breiten Faktengrundlage“ geführt hätten. Herausgekommen sei das Bild eines Mannes, „der sich das Recht herausnahm, andere zu betatschen oder sogar gewalttätig zu werden“.
Eine Frage der Wortwahl
Am Tag nach dem Bekanntwerden von Fredrikssons Tod, habe sie dann „den schwersten Text meines Lebens schreiben müssen“, gesteht Linderborg. In diesem fragte sie sich selbstkritisch, welche Rolle sie und ihre Recherchen für den Tod gespielt haben. Linderborg, die selbst einige der 41 Interviews für die Recherche geführt hat, kommt zu dem Schluss: Sie würde heute kaum anders berichten. „Wir hatten zu viele Zeugenaussagen, um die Missstände in der Führung des Stadttheaters nicht aufzudecken“, schreibt sie. „Aber wir müssen uns öfter bewusst machen, welche Macht wir JournalistInnen haben.“ Einige Formulierungen und Überschriften würde sie heute aber gern ungeschehen machen.
Ausgerechnet Linderborg hatte als eine der wenigen schon im vergangenen Herbst vor einer „hysterisch gewordenen“ MeToo-Berichterstattung gewarnt. Davor, „dass diese vermeintliche Revolution die Rechtssicherheit, die Presseethik und in gewissem Masse auch den Feminismus untergraben könnte“.
Die Moderatorin und Bloggerin Cissi Wallinn sieht das anders. Warum überhaupt eine Verbindung zwischen Fredrikssons Tod und MeToo herstellen?, fragt sie. Vermutlich wisse nicht einmal seine Familie, warum er nicht mehr leben wollte. Natürlich sei jeder Suizid ein „kapitales Misslingen der Gesellschaft“. Aber daraus zu schließen, MeToo sei zu weit gegangen, sei ein Fehlschluss.
Seit Mitte Oktober letztes Jahres hatte MeToo wochenlang die schwedischen Medien beherrscht. Von Reitsportlerinnen und Lehrerinnen bis zu Politikerinnen, hatten nahezu täglich (prominente) Frauen Übergriffe angeklagt. Dabei wurden Übergriffe aller Art und teilweise Jahrzehnte zurückliegende vermischt. Dabei sei ein Sog entstanden, kritisiert Anna Hedenmo, TV-Journalistin und Vorsitzende der Journalistenvereinigung Publicistklubben. Die MeToo-Berichterstattung sei in Schweden zu weit gegangen. Und es sei journalistisch auch nicht immer sauber gearbeitet worden. Teile ihrer JournalistenkollegInnen hätten das Feld einer sachlichen Berichterstattung verlassen und sich von einer „gefühlsgesteuerten Kampagne mitreißen lassen“. Anschuldigungen seien unkritisch verbreitet und jegliche Zurückhaltung bei der Nennung von Namen aufgegeben worden.
„Wenn es aber ganz anders ist?“
Björn Werner, Kulturchef der liberalen Göteborgs Posten, stimmt zu. Natürlich sei man nachträglich klüger, aber dass es ein halbes Jahr und einen tragischen Selbstmord gebraucht habe, bis schwedische Redaktionen ihre Berichterstattung reflektierten, sei „too little too late“.
Die MeToo-Berichterstattung habe grundsätzliche Fragen zur Dramaturgie der Medien aufgeworfen, sagt auch Anne Lagercrantz, Nachrichtenchefin des öffentlich-rechtlichen Fernsehens SVT. Dort habe man Konsequenzen gezogen und sich neue Richtlinien für die eigene Nachrichtenarbeit gegeben: Man wolle mehr darauf achten, den ZuschauerInnen unterschiedliche Perspektiven anzubieten. Und öfter fragen: „Wenn es aber ganz anders ist?“
Hinweis: Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“