Bericht zu weltweiter Ungleichheit: Tiefe transatlantische Spaltung
Ökonomen um Thomas Piketty legen ihren ersten Bericht zur Ungleichheit in der Welt vor. Doch Steuerbelastungen und Sozialtransfers sind nicht mitgerechnet.
Deutschland ist heute so ungleich wie vor 100 Jahren. So interpretierte am Donnerstag die Süddeutsche Zeitung eine umfassende Studie zur Einkommensverteilung in der Welt, die das Zeug dazu hat, künftig eine wichtige, feste Größe in der Debatte um Steuergerechtigkeit, Globalisierung und Einkommensverteilung zu werden.
Die Interpretation der SZ ist zumindest gehörig übertrieben, doch die Wucht der Daten gewaltig: Die Studie stammt von einer Gruppe von Ökonomen um Lucas Cancel von der Paris School of Economics und Thomas Piketty, der mit seinem Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von 2013 weltberühmt wurde – weil er anhand weltweiter Daten aufzeigte, dass von der globalisierten Wirtschaft fast ausschließlich die reichsten 10 Prozent profitieren.
An der Arbeit jetzt waren mehr als 100 Wissenschaftler beteiligt, die verwendeten Rohdaten sind alle online verfügbar. Wohl auch, um bei dem politisch heiklen Thema „Umverteilung“ allzu plumper Kritiker vorzubeugen: Wer die Ergebnisse anzweifelt, soll nicht pöbeln, sondern muss und kann gefälligst selbst nachrechnen.
Die Ergebnisse für Deutschland bieten genug Stoff für abendfüllende Talkshows, besonders eine Zahl: Die 10 Prozent Spitzenverdiener in Deutschland bekommen heute 40 Prozent des Gesamteinkommens und so war das schon vor mehr als 100 Jahren, 1913. Geht es bei uns also so ungleich zu wie damals?
Das sicher nicht, denn bei den ausgewerteten Daten handelt es sich um Vorsteuereinkommen aus Arbeit und Kapital. Der Spitzensteuersatz lag in einigen Teilen Deutschlands in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bei 5 Prozent, heute liegt er bei 42 Prozent. Auch die Sozialleistungen durch das Renten- und Grundsicherungssystem sind nicht eingerechnet in die Einkommen.
Allerdings sind andere Daten schlicht nicht verfügbar, sagt Charlotte Bartels, die am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung die Studie für Deutschland verfasst hat. Tatsächliche Einkommen sind nur über Haushaltsbefragungen zu ermitteln, und da macht das obere 1 Prozent der Bevölkerung nicht mit. Das Vorsteuereinkommen sei deshalb ein transparentes Konzept, um zu ermitteln, wie der Markt Einkommen verteilte.
Auch DIW-Chef Marcel Fratzscher spricht von einem „besseren Maß der Chancengleichheit“. So werde gezeigt, wie sich das, was die Menschen aus ihrer eigenen Hände Arbeit generieren, verteilt. „Hier stellt sich heraus, dass die Ungleichheit in Deutschland fast so groß ist wie in den USA. Erst nach Umverteilung, also durch Eingriff des Staates, steht Deutschland besser da“, schreibt er der taz.
In Deutschland lässt sich so zeigen, dass seit Anfang der nuller Jahre die unteren Einkommensschichten immer weniger Anteil am Gesamteinkommen erzielen. Wohl gemerkt bedeutet das nicht, dass sie absolut weniger verdienen, sondern relativ zu besser verdienenden schlechter abschneiden. Ob das an den Hartz-IV-Reformen liegt, haben die Ökonomen nicht untersucht – wohl aber, dass der Trend „Hand in Hand geht mit dem Wachstum des Niedriglohnsektors“.
Dazu kommt eine Entwicklung, die in Deutschland, aber auch weltweit zu beobachten ist: Immer weniger Kapital liegt in öffentlicher Hand, weil seit 1980 „riesige Mengen an öffentlichem Vermögen in private Hände transferiert wurden“, wie die Autoren schreiben. Das ist das Ergebnis der großen Privatisierungswelle seit den 80er Jahren.
Dadurch verringere sich der Spielraum von Staaten, der Ungleichheit entgegenzuwirken, heißt es in dem Bericht. Zwischen Westeuropa und den USA gibt es seit den 80er Jahren allerdings auch signifikante Unterschiede, beide Zonen haben sich fundamental unterschiedlich entwickelt. Tatsächlich ist Westeuropa von allen Weltregionen die mit der ausgeglichensten Einkommensverteilung.
1980 waren die Einkommen in den USA verteilt wie in Europa, seitdem hat sich der Anteil des reichsten einen Prozents am Gesamteinkommen in den USA verdoppelt – auf 20 Prozent. In Westeuropa stieg er nur leicht auf 12 Prozent an.
Die Ökonomen gehen so weit, dass sie davor warnen, das US-Modell zu übernehmen. Sollte der Trend generell so weitergehen wie bisher, werde die Mittelschicht weltweit „zerquetscht“, heißt es in dem Report. Die obersten 0,1 Prozent würden dann im Jahr 2050 mehr besitzen als die gesamte Mittelschicht.
Umverteilung von unten nach oben
Würde sich die Einkommensverteilung bis 2050 weltweit so entwickeln wie in Westeuropa im Schnitt der letzten 20 Jahren, dann würde die Schere zwischen Arm und Reich weltweit sich sogar wieder zu schließen beginnen. Das Durchschnittseinkommen der ärmeren Hälfte der Menschheit würde dann 2050 bei 9.100 Dollar liegen. Sollte das Wachstumsmodell der USA Pate stehen, betrüge es lediglich 4.500 Dollar. Die jüngste Steuerreform von Donald Trump, die vor allem Spitzenverdiener entlastet, dürfte die Umverteilung von unten nach oben noch weiter beschleunigen.
Das Pariser „World Inequality Lab“ um Piketty, an dem die Studie verfasst wurde, warnt vor dieser Entwicklung – und versteht sich auch als Gegengewicht der dominanten angloamerikanischen Chicagoer Schule, auf deren marktradikale Theorien viele neoliberale Reformen der letzten Jahrzehnte zurückgehen, inklusive der Politik der Notenbanken.
Die Pariser Schule schlägt eigentlich längst bekannte Maßnahmen vor, um der globalen Ungleichheit zu begegnen: Höhere Einkommen müssten auch mit höheren Steuern belastet werden, Erbschaften höher besteuert werden. So sei die Ungleichheit in Schwellenländern ohne Erbschaftssteuer besonders hoch. Sie fordern ein weltweites Finanzregister, um Steuerflucht zu bekämpfen. Außerdem freien Zugang zu Bildung, höhere öffentliche Investitionen in Bildung, Gesundheit und Umweltschutz.
Man wolle keinen gesellschaftlichen Konsens zum Thema Ungleichheit herstellen, schreiben die Autoren: „Dazu wird es niemals kommen, einfach weil es kein wissenschaftlich erwiesenes Idealmaß an Ungleichheit gibt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut