Bericht zu Berliner Antiziganismus: Zu viel bleibt im Dunkeln

Nicht einfach abhaken: Der Dokumentationsbericht Antiziganismus ist ein weiteres Indiz für tiefsitzende Vorurteile in Behörden. Ein Wochenkommentar.

Menschen protesteieren am internationalen Roma Day 2013

Seit Jahren protestieren Menschen am internationalen Roma Day gegen Antiziganismus Foto: imago

Ist das kein Grund zur Besorgnis? 137 Diskriminierungsfälle hat die Dokumentationsstelle Antiziganismus diese Woche in ihrem Jahresbericht 2021 veröffentlicht. Die Versuchung ist groß, sie als 137 bedauerliche Einzelfälle abzuhaken. Bis zum nächsten Jahresbericht.

Wir könnten aber auch einmal innehalten und die Indizien dafür wahrnehmen, dass der Antiziganismus in dieser Stadt ein so tiefsitzendes Phänomen ist, dass er nicht einmal ausreichend problematisiert wird. Und wenn 137 Fälle dafür nicht genügen, dann muss die Konsequenz sein: Eine systematischere Erfassung antiziganistischer Einstellungen in allen staatlichen Einrichtungen, die über das Leben von Menschen entscheiden.

Die im Jahresbericht dokumentierten Fälle durchziehen alle Lebensbereiche: Wohnen, Arbeiten, Bildung, Freizeit. Und immer wieder wird auch von Seiten der Behörden diskriminiert: Sach­be­ar­bei­te­r:in­nen in Jobcentern, bei Familienkassen, in der Kinder- und Jugendhilfe, bei der Polizei, beim Schulamt. Sie erfassen widerrechtlich Roma-Hintergründe, verlangen zusätzliche Unterlagen, verzögern die Erbringung existenzsichernder Leistungen oder verwehren diese ganz.

Die Fälle aus dem Dokumentationsbericht können dabei nur einen Hinweis darauf geben, wie tief verankert, ja selbstverständlich antiziganistische Vorurteile sind. Wie viel von „Stimmt doch auch irgendwie, ich kenn da die und die Geschichte“ steckt in dem Misstrauen und dem Generalverdacht des vermeintlichen Leistungsbetrugs? Wie wenig werden diese Stereotype ernsthaft in Frage gestellt und mit der Wirklichkeit abgeglichen?

Dass die bundesweit einzigartige Dokumentationsstelle mit gerade mal drei Halbtagsstellen arbeitet und in Pandemiezeiten wesentliche Meldemechanismen weggebrochen sind, deutet außerdem darauf hin, dass die dokumentierten Fälle nur der offensichtlichste Bruchteil einer Vielzahl von Ereignissen ist.

Betroffen sind oft Menschen auf der Flucht

Die Stigmatisierung trifft vor allem Menschen, die sich – häufig auf der Flucht aus Ländern, in denen sie ebenfalls diskriminiert wurden – in existenziellen Notsituationen befinden. Dass wiederholte Benachteiligung nicht genau zu den Phänomenen Abschottung, Verarmung und Kriminalisierung führt, aus denen sich das vermeintlich begründete Misstrauen zehrte, liegt in der Verantwortung der Politik. Es ist Aufgabe des Senats, eine umfangreiche Sensibilisierung von Ent­schei­dungs­trä­ge­r:in­nen in allen relevanten Behörden und Institutionen anzustoßen, Roma-Selbstvertretungen weiter zu stärken und niedrigschwellige Beschwerdestrukturen etwa im Schulbereich einzurichten.

Wenn die Hinweise aus dem Dokumentationsbericht dafür nicht ausreichen, dann ist es Zeit für eine systematische Erfassung antiziganistischer Ressentiments in allen relevanten Behörden und Einrichtungen – so wie wir es aus Polizeistudien zu rassistischen Einstellungen kennen. Es ist zu viel, was bislang im Dunkeln bleibt.

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Redakteurin in der Inlandsredaktion, schreibt über Gesundheitsthemen und soziale (Un-) Gerechtigkeit.

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