Bericht vom Prosanova-Festival: Gesten des Respekts
Das Prosanova-Literaturfestival nahm sich vor, Ernst zu machen mit der Einladung an alle. Es hat ziemlich gut geklappt, meist auch ohne Wasserglas.
Prosanova ist das Festival, das sich traditionell mit jeder Ausgabe neu erfindet. Es wurde 2005 gegründet und findet seitdem als „Festival für junge Literatur“ alle drei Jahre für ein paar Tage in der Gerade-so-Großstadt Hildesheim statt. Das bleibt gleich.
Das Team aber ist jedes Mal ein anderes, jedes Mal wieder bewusst unerfahren, rekrutiert sich nämlich aus dem Studiengang für Literarisches Schreiben der Universität und dem Umfeld der Literaturzeitschrift Bella Triste, die in demselben Kontext erscheint. Konzepte, Weltsichten, literarische Präferenzen und Politisierungszustände aber sind jedes Mal anders, denn mit „jung“ ist wenig gesagt.
Das macht das Festival als seismografische Veranstaltung besonders interessant, die sich, etwa durch ihre Einladungspolitik, immer auch und immer etwas anders ins Verhältnis zum Literaturbetrieb setzt, dessen Vorfeldorganisation, ob er will oder nicht, der Studiengang nun einmal ist. In diesem Jahr war die Abgrenzung von dessen Erwartungen und Routinen entschieden, aber nicht laut, die eigenen Sturheiten und Verweigerungsgesten nicht aggressiv, sondern mit schöner Selbstverständlichkeit vorgetragen. Alles Halbstarke fehlte.
Was auch wechselt: der Schauplatz. Ganz gezielt meidet Prosanova die Domäne Marienburg, den sehr idyllisch etwas vor der Stadt gelegenen Campus. Stattdessen begibt man sich auf die Suche nach einer provisorischen Heimat, nach Räumen, die nicht von Haus aus Kultur- oder Literaturräume sind. Bei der letzten präpandemischen Ausgabe 2017 (2020 gab es nur eine virtuelle Version) war es ein Industriegelände im wenig schmucken Norden der Stadt.
Dieses Mal ist es ein Gebäude, das bis vor wenigen Jahren als Grundschule diente, seit deren Umzug in einen Neubau in der Nähe steht es leer. Zur Abwechslung liegt es im hübschesten Viertel der im Krieg brutal zerstörten Stadt. Hier sind ein paar Straßenzüge mit Fachwerk stehengeblieben, viele mit Rosenstöcken geschmückt.
Schlechte Wörter
Die Schule selbst aber ist, trotz beachtlicher Aula mit für die Festivalzwecke praktischer Bühne, ein nicht weiter auffälliger Nutzbau. An den Kleiderhaken der Gänge kleben noch die Namensschilder der Kinder des letzten Jahrgangs: Amelie und Yusuf, Anna und Vishnu, Irem und Max.
Der Schulhof und zwei Gänge im Erdgeschoss und ersten Stock sind angeeignet, an der Fassade purzeln die Buchstaben PROSANOVA, drinnen sind silberne Fähnchengirlanden gespannt, der Schul- und Klassenzimmercharakter aber ist erhalten geblieben.
Was man als Geste des Respekts vor dem Spirit des Orts nehmen kann; und als bezeichnend. Das nämlich, gegenseitiger Respekt, freundliche Einladungsgesten, die Offenheit für alle Herkünfte, Sprachen, all genders und Flinta*, die Eröffnung von Räumen fürs Gespräch, sind das, was diese Ausgabe des Festivals prägte.
Sie hatte sich einen kurzen, keineswegs verrätselten, aber sehr deutbaren Text von Ilse Aichinger, „Schlechte Wörter“, als einen von zwei Prätexten gegeben, der im Programm manches Echo hervorrief. Los ging es dann, programmatisch dialogisch, mit dem anderen Prätext, der Lesung eines schriftlichen Gesprächs der Autorinnen Anna Kim und Karosh Taha, das ethische Fragen des Autofiktionalen, der nötigen und möglichen Naivität beim Schreiben umkreist.
Ein Gespräch, das man ausgedruckt auf zwei großen Plakaten nachlesen kann; ein Gespräch, an das etwa Olufemi-Just Atibioke in seinem Text „Juice and Sauce“ anschließen wird. Atibioke sitzt im Raum, spricht aber nicht. Seine Erzählung vom gestohlenen Laptop und damit abhanden gekommenen Text spielt sich selbst komplett auf einem Computerbildschirm ab. Zeilen werden getippt und wieder gelöscht, das Ich schweift ab, adressiert ein Publikum, googelt, es geht um Familiensachen, auch um nigerianische Sprachen, ein kurzes Youtube-Video läuft: Abbildung eines rechner- und internetgestützten Denk-, Schreib-, Bewusstseinstroms, mit Witz und vor allem Selbstverständlichkeit vorgetragen.
Eine radikale Zer-Lesung
Wenn es eine Prosanova-Grundhaltung gibt, dann ist es die Ablehnung der Wasserglas-Lesung. Vieles ist darum eher Performance. Am radikalsten im Fall des Künstlers, Musikers, Performers und Autors Damon Taleghani, der aus einem entstehenden Roman namens „Macetti“ vortrug, in dem es um eine leninistische Partei des Irans im DDR-Exil geht. Soweit man das verstehen konnte, denn das Ganze war eine Zer-Lesung sondergleichen.
Der Autor trug Dunkelbrille, recht insektoid, hatte Mühe, irgendwas zu entziffern, bat das Publikum um Armbanduhren, nicht ganz klar, warum, schickte Sätze als stille Post durch die Reihen, entlockte einem E-Harmonium recht wehe Töne, las scheinbar wahllos aus dem Kommunistischen Manifest und dem eigenen Text, wirkte insgesamt extrem unterspannt und hörte irgendwann einfach auf. Erstaunlicherweise war das sehr toll.
So politisch wie lyrisch war die gemeinsame Lesung von (Avrina Prabala-Joslin) und (Sinthujan Varatharajah), die zu einer Videoprojektion mit Meeresrauschen auf Tamil, Englisch und Deutsch einen Text über das Meer, aber auch Gewalt und Krieg in Südindien und Sri Lanka vortrugen. Um Fragen der Übersetzbarkeit, Übersetzung als Gewaltakt, um die auch durch guten Willen und Literatur nicht wegzuschaffende Gewalt einer imperialen und kolonialen Sprache, Akte der Musealisierung, aber auch um die Luft und das Meer ging es tags darauf im Gespräch mit Varatharajah über sein*ihr die Genres kreuzendes Buch „an alle orte, die hinter uns liegen“ aus dem vergangenen Jahr.
Sehr gelassen schilderte Varatharajah dabei den Druck, den der Markt auf die Entstehung von Text und Buch als Objekt ausübt. Und machte klar, wie weit man sich ihm entziehen kann, wie weit aber auch nicht.
Wenn man Wut reintut
Gar nicht gelassen, es ist nicht seine Art: Behzad Karim Khani, der mit seinem 2022 erschienenen Debütroman „Hund, Wolf, Schakal“ einen großen Erfolg erzielte, eigentlich auch bei der Kritik. Auf Facebook hatte er im Vorfeld jedoch, durchaus viel beachtet, gegen Passagen der taz-Kritik seines Buches gewütet, was er bei Prosanova unter dem Ankündigungstitel „Rezensionsmaschine“ eigentlich fortsetzen wollte. Hat er aber, wenngleich unversöhnt, dann gelassen.
Ein Glück, und zwar ganz unabhängig davon, ob man öffentliche Kritik-Kritik für eine gute Idee hält oder doch eher nicht. Nach der Ankündigung „Wenn man Wut bei mir reintut, kommt Literatur raus“ las Karim Khani dann nämlich einen ganz neuen, die Wut tatsächlich in mitreißende Literatur transformierenden Text, eine heftige Geschichte, in der ein iranischstämmiger Ich-Erzähler aus seiner Siedlung berichtet und die Entstehung von Gewalt und diese Gewalt selbst drastisch schildert. Die Erzählung von einer im Harten zarten, lutscheisvermittelten ersten Liebe ist es wie nebenbei aber auch.
Wie es ohne Wasserglas, aber schlicht sehr schön ebenfalls geht, führte Inana Othmann vor. Sehr publikumszugewandt las sie aus fliegenden Zetteln, manches erzählend, manches eher lyrisch, um Syrien ging es, aber keinesfalls nur den Krieg. „Vorwärts Erinnern“ ist der Titel ihres Projekts. Othmann trat auch im Rahmen der live aufgezeichneten Folge des Podcast-Literaturmagazins Stoff aus Luft noch einmal auf, neben Damon Taleghani, Olufemi-Just Atibioke, und anderen.
Ihr auf Arabisch ganz großartig vorgetragener Text blieb unübersetzt. Und das war wunderbar so. Und typisch für das Festival, in der Selbstverständlichkeit, als Geste des Respekts. Es ließ sich bei diesem Prosanova nicht das Lesen, sondern etwas Entscheidenderes, nämlich das Zuhören lernen. (Während man auf dem Handy verfolgte, wie in Russland ein Schlächter die Auseinandersetzung mit dem anderen suchte.)
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