Bericht des Verfassungsschutzes: Neonazis im Tarnlook
Der Verfassungsschutz warnt vor steigender Zahl "autonomer Nationalisten". Innenminister Friedrich befürchtet eine Spirale der Gewalt zwischen rechts und links.
BERLIN taz | Der Verfassungsschutz will den "militanten Teil des deutschen Rechtsextremismus" noch stärker ins Visier nehmen. Das kündigte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, Heinz Fromm, am Freitag bei der Vorstellung seines Berichts für 2010 an. Dort ist die Rede von 9.500 gewaltbereiten Rechtsextremisten.
Bezogen auf die Einwohnerzahl, werden die meisten rechten Gewalttaten in Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Sachsen begangen. Das zeigt, dass Gewalt durch Neonazis nach wie vor ein besonderes Problem des Ostens ist - aber nicht nur. Kummer macht Fromm die steigende Zahl von Neonazis, die den autonomen Nationalisten zuzurechnen sind, auf inzwischen rund 1.000. Ein Schwerpunkt dieser Szene ist in Nordrhein-Westfalen. Autonome Nationalisten sind Rechtsextreme, die sich den Antikapitalismus und den Schwarzer-Kapuzenpulli-und-Sonnenbrille-Look von links abgeschaut haben.
Vor allem auf Demonstrationen treten diese meist jungen Neonazis äußerst aggressiv auf und greifen mitunter auch Gegendemonstranten an. Am Rande einer Demo im vergangenen Jahr in Berlin wurden sogar selbst gebaute Sprengsätze sichergestellt. Die klassischen Neonazis mit Glatze und Springerstiefeln werden dagegen offenbar immer seltener. "Den Skinheads ist der Nachwuchs ausgegangen", sagte Verfassungsschutz-Präsident Fromm am Freitag.
Am Schwächeln sind nach Ansicht des Verfassungsschutzes auch die rechtsextremen Parteien. Sowohl die NPD als auch die DVU haben erneut Mitglieder verloren, eine geplante Fusion der beiden Parteien ist immer noch nicht abgeschlossen.
Sorge vor Anstieg linker Gewalt
Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) hob am Freitag bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts vor allem auf die Gefahren des islamistischen Terrorismus ab. Es gebe auch nach dem Tod des Al-Qaida-Anführers Osama bin Laden "keinen Grund zur Entwarnung". Das Attentat auf zwei US-Soldaten im März dieses Jahres in Frankfurt sei der "erste vollendete islamistische Anschlag" hierzulande gewesen, begangen durch einen im Internet radikalisierten Einzeltäter.
Aber auch die Zahl der Straftaten von Linksextremisten sei "Anlass zur Sorge", so Friedrich. Zwar seien diese im Berichtsjahr 2010 zurückgegangen, in den ersten fünf Monaten dieses Jahres dann aber wieder deutlich angestiegen.
In ihrer "menschenverachtenden Grundhaltung" schenkten sich die Autonomen von links und rechts nichts, behauptete Friedrich. Immer öfter attackierten Linksextreme Neonazis, Leidtragende seien oft auch Polizisten, sagte der Innenminister.
Verfassungsschutzchef Heinz Fromm verwies auf Angriffe auf Rechtsextreme in Berlin in der vergangenen Woche. Dort waren zunächst mehrere NPD-Politiker zusammengeschlagen worden. Als Racheaktion verübten mutmaßliche Neonazis danach Brandanschläge auf alternative Hausprojekte. "Wir haben die Gefahr einer Gewaltspirale", sagte Innenminister Friedrich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann