Bereitschaftshotline 116117: Selbsttriage im Netz

Über die Feiertage boomen die Anrufe bei der ärztlichen Bereitschaftshotline. Wer sich schlecht fühlt, kann sich auch im Internet selbst einschätzen.

Personen sitzen in einem Büro und geben telefonisch Auskunft

„Wie genau sind die Schmerzen, stechend oder dumpf?“ Foto: Daniel Reinhardt/picture alliance

BERLIN taz | Der junge Anrufer am Telefon klingt nervös: „Ich habe 37,3 Grad Temperatur. Soll ich zur Arbeit gehen oder nicht?“ Die Mitarbeiterin am Telefon fragt geduldig nach: Gibt es Beschwerden, Erkältungssymptome vielleicht? „Wir geben keinen Rat, ob sich der Anrufer krankschreiben lassen soll oder nicht, das ist nicht unsere Aufgabe“, sagt Andrea Albrecht, Fachbereichsleiterin bei der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg. „Die Disponentin am Telefon würde vielleicht empfehlen, dass der junge Mann seinen Hausarzt aufsucht, oder ihn auf eine entsprechende Praxisadresse verweisen.“

Albrecht kennt die Bandbreite der Anrufer:innen, die sich unter der 116117, der Rufnummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst, melden. Ein Klassiker seien jungen Leute, die gerade bei den Eltern ausgezogen seien, alleine lebten und sich schon bei kleinen Beschwerden unsicher fühlten, erzählt sie.

Ebenso typisch sei der Fall der alten Dame, die auf dem Land lebte und deren Mann plötzlich bewusstlos zusammengebrochen sei. „Das ist der absolute Ernstfall“, sagt Albrecht, „da wird dann gleichzeitig der Rettungswagen losgeschickt, während der Disponent am Telefon bleibt und womöglich Anweisungen zu Wiederbelebungsmaßnahmen gibt.“

35.000 Mal wird pro Tag in Deutschland die 116117 gewählt. Dort erreicht man den ärztlichen Bereitschaftsdienst, ebenso wie die Terminservicestelle. Jetzt für die Feiertage rüsten sich diese wieder für einen besonderen Ansturm von Anrufer:innen. Zu Coronazeiten heftig beworben, gilt die Nummer inzwischen als eine Art Gegenmittel gegen überfüllte Notaufnahmen in Krankenhäusern und gegen das voreilige Alarmieren eines Rettungswagens unter der Notrufnummer 112.

Durchschnittliche Wartezeit: 5 Minuten

Ein Problem an der Hotline sind die langen Wartezeiten. „Es gibt kaum jemanden, der auf Anhieb durchkommt“, sagt Marcel Weigand, Abteilungsleiter bei der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Die KV Bayern ermittelte durchschnittliche Wartezeiten von fünf Minuten. In den Spitzen, etwa am Wochenende, kann das noch länger sein, erst recht in den Metropolen. Denn dort greifen die Leute auch bei weniger schweren Symptomen schneller zum Hörer als auf dem Land und erwarten von der 116117 dann auch schnellen Service, so die Erkenntnisse der KVen.

Die Mit­ar­bei­te­r:in­nen, die ans Telefon gehen, verfügen in der Regel über medizinische Vorbildung, sie sind zum Beispiel Ret­tungs­sa­ni­tä­te­r:in oder Krankenpfleger:in. Für die Arbeit bei der Hotline brauchen sie zudem eine Weiterbildung in der sogenannten strukturierten medizinischen Ersteinschätzung, kurz SmED. Das ist ein durch Algorithmen gesteuerter, digitaler Fragebogen. Anhand dessen können die konkreten Beschwerden, deren Stärke und Dauer sowie Vorerkrankungen auch von Nicht­ärz­t:in­nen ermittelt und dadurch auf die Dringlichkeit einer Behandlung geschlossen werden.

Seit einiger Zeit können diesen Fragebogen auch Laien im Internet unter der www.116117.de abrufen und für eine Ersteinschätzung nutzen, also eine Art Selbsttriage machen. Am Ende des „Patienten-Navi-online“ bekommen sie dann eine Empfehlung hinsichtlich der Dringlichkeit von Arztbesuchen.

In Berlin werden sie im Falle hoher Dringlichkeit sogar automatisch an die regionale KV-Leitstelle weitergeschickt. Dieses System planen auch andere KVen. „Dieser Fragebogen ist eine gute Sache, auch als erste Selbsteinschätzung, wenn man am Telefon in der Warteschleife hängt“, sagt Weigand. „Das kann Menschen helfen, die sich wegen ihrer Beschwerden Sorgen machen“.

Wie akut sind die Beschwerden?

Wer das Patienten-Navi-online nutzt, dem fällt auf, wie ausführlich und präzise der Fragebogen ist. Zu Beginn werden die hochbedrohlichen Symptome abgefragt, wie etwa Atemnot, Lähmungen, plötzliche Sprachstörungen, Bewusstlosigkeit. Das sind Symptome, die zur Alarmierung des Rettungswagens über die 112 beziehungsweise zur Notaufnahme führen. Liegen diese Symptome nicht vor, geht es detailliert zu den einzelnen Beschwerden.

Wer zum Beispiel „Bauchschmerzen“ angibt, wird gefragt, wie stark die Schmerzen auf einer Skala von 1 bis 10 sind. Wo genau sitzt der Schmerz? Linker oder rechter Ober- oder Unterbauch? Ist er dumpf, stechend, brennend oder kolikartig? Hat man was Verdorbenes gegessen, nimmt man neue Medikamente, gibt es Vorerkrankungen und aktuelle Erkrankungen? Wer sich nur vage ein bisschen unwohl fühlt, kann sich wie ein Hypochonder vorkommen angesichts der konkreten Fragen der SmED.

Eine Standardfrage lautet: Wie akut sind die Beschwerden? Länger andauernde Symptome erlauben möglicherweise, dass man auf die nächste Praxisöffnung wartet, als am Sonntag zum Bereitschaftsarzt zu gehen. Patient:innen, die schon seit drei Wochen Rückenschmerzen haben, aber erst am Wochenende einen Arzt sehen wollen, weil sie dann freihaben, sind der Albtraum für die Notaufnahmen in den Krankenhäusern.

Je nach Antworten wird am Ende angegeben, ob man zur Notaufnahme gehen, sich schnellstmöglich oder aber spätestens innerhalb von 24 Stunden in Arztbehandlung begeben soll. Oder ob es reicht, erst in den nächsten Tagen eine Praxis aufzusuchen. Diese Digitalisierung ist in anderen Ländern, etwa in Finnland, schon viel verbreiteter als hier.

40 Prozent müssen sofort zum Bereitschaftsdienst

Laut Zahlen des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (zi) haben im November 2023 rund 20.600 Menschen die digitale Patientenselbsteinschätzung genutzt, Tendenz steigend. „Eine stärkere Nutzung von SmED durch die Patienten wäre wünschenswert“, findet Roland Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV).

Die wenigsten Ratsuchenden am Telefon der 116117 erweisen sich als Notfälle. Laut der Statistik des zi werden von den Anrufer:innen, die von den Mit­ar­bei­te­r:in­nen der 116117 ersteingeschätzt werden, nur rund fünf Prozent als Notfall definiert. Gut 40 Prozent der Anrufenden raten die Mit­ar­bei­te­r:in­nen am Telefon, schnellstmöglich den Bereitschaftsdienst aufzusuchen, wobei die Mehrzahl dieser Bereitschaftspraxen in oder an Krankenhäusern angesiedelt ist. Sind die Pa­ti­en­t:in­nen nicht mobil, können sie fahrende Bereitschaftsärzte kontaktieren.

34 Prozent wird ein Arztbesuch innerhalb von 24 Stunden empfohlen, womöglich kann man also auf die nächste reguläre Sprechstunde des Hausarztes unter der Woche warten. 17 Prozent wird gesagt, sie können sich noch mehr Zeit lassen mit einem Praxisbesuch.

Finanziert wird die Nummer 116117 aus den Honorartöpfen der regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen. Diese bemängelten zuletzt steigende Kosten für die Bereitschaftsärzte. Denn diese dürfen nach einem Gerichtsurteil nicht mehr als Honorarkräfte beschäftigt, sondern müssen festangestellt werden, was teurer ist.

Auf dem Land wird die Arztsuche schwierig

Die Nummer, die von den regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) betrieben wird, vermittelt auch Termine bei Fachärzten, je nach Fachgebiet mit oder ohne Überweisungsschein durch einen Hausarzt. Termine kann man auch digital über die Website 116117.de oder über eine App buchen.

Laut Gesetz steht Pa­ti­en­t:in­nen bei Dringlichkeit ein Termin bei einem Facharzt spätestens innerhalb von vier Wochen zu. Das Problem: In dünn besiedelten ländlichen Gebieten gibt es manchmal gar keinen erreichbaren Facharzt, der innerhalb dieses Zeitraums Termine frei hat.

„Wir können uns leider keine Ärzte backen“, sagt Holger Rostek, Vorstand der KV Brandenburg, „in einzelnen Regionen haben wir das Problem, dass es einfach keine Ärzte gibt. Da müssen wir die Patienten dann relativ weit zu anderen Ärzten schicken und in einzelnen Fällen kommt es dann auch zu einer längeren Wartezeit“.

Ist in abgelegenen Regionen kein Facharzttermin bei einem niedergelassenen Arzt möglich, „haben die Patienten das Recht, über die Terminservicestellen einen ambulanten Termin in einer Klinik vermittelt zu bekommen. Dies geschieht aber leider nicht“, so Patientenberater Weigand.

Er wünscht sich mehr Transparenz im Gesundheitswesen. „Wir bräuchten mehr Transparenz über die fachärztliche Versorgung in den einzelnen Regionen“, sagt er. Damit würde man die eklatante Unterversorgung in manchen Gebieten offenlegen. Eine Unterversorgung, an der auch die 116117 erst mal nichts ändert.

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