Bereichernde Stadtbesichtigung: Das polierte Spiegelstück
Ich willigte ein, dem mir kaum bekannten jungen Mann die Stadt zu zeigen. Und entdeckte sie durch seine Augen neu.
D as größte Geschenk ist es, Personen zu treffen, die dem eigenen Leben einen neuen Spiegel vorhalten. Es ist sonst, als würde man sich selbst jeden Morgen in dem gleichen Spiegelstück betrachten. Dieses Spiegelstück hat eine gewisse Größe, ist durch ein bestimmtes Licht geprägt und hat eine Struktur. Durch diesen Spiegelausschnitt blicken wir auf uns selbst und unser Leben. Und plötzlich trifft man Personen und das Spiegelstück verändert sich. Als würde die Person daran reiben, es putzen und neu polieren.
Kinder können das. Durch Reisen passiert es. Und Menschen, die in den eigenen Alltag kommen.
Es ist wichtig, diesen Menschen zu begegnen, sie sind das Beste, was uns passieren kann. Der Cousin eines guten Freundes aus Sri Lanka nimmt an einer Fortbildung für zwei Monate in Süddeutschland teil. Ich habe ihn dort kennengelernt und seine unbändige Lust, das Land und das Leben zu entdecken.
Mitte zwanzig ist er, voller Pläne. Jedes Wochenende nutzt er, um verschiedene Städte in Deutschland zu bereisen. Als er hört, dass ich in Hamburg wohne, fragt er mich, ob ich ihm etwas von der Stadt zeigen könne, als er an einem Wochenende auch Hamburg entdecken will.
Wir treffen uns an einem Sonntagmorgen an den Landungsbrücken. Eigentlich passt mir der Termin nicht besonders gut. Ich bin noch müde und habe nur ein paar Stunden Zeit. Ich sehe ihn schon von Weitem, wie er an der Brücke steht, mit den Händen leicht das Geländer berührt und auf den Hafen hinaus schaut. Ich rufe ihn, doch zuerst reagiert er gar nicht. Er ist ganz versunken in den Anblick der Elbe.
Auf der Fähre packt er eine Kompaktkamera aus
Dann begrüßen wir uns. Wir kennen uns gar nicht besonders gut, aber es ist zu spüren, dass er viel reist, vielen Menschen offen begegnet. Wir nehmen eine Fähre nach Övelgönne.
Auf der Fähre packt er eine Kompaktkamera aus, in die ein Film eingelegt ist. Begeistert steht er an der Reling, blickt um sich und macht ab und zu ein Bild. „Es ist besonderer, mit einem analogen Film Fotos zu machen“, sagt er. Das Bild bannt sich auf Film, ohne dass es sich sofort digital äußert. Sein Fotografieren hat etwas Symbolisches. Für ihn ist hier alles so besonders, dass er den Motiven ein Stückchen Filmabschnitt schenkt. Ein riesiges Containerschiff zieht vorbei. Klick. Ein Bild.
Während wir auf der Fähre stehen, sieht er zum Fischmarkt. „Haben die Häuser hier alle Backstein?“, fragt er. „Diese Stadt ist so schön aus einem Guss gebaut, mit dem Stahl. Sie gefällt mir.“ Von ihm geht eine Begeisterung, ein Leuchten aus. Durch seine Augen entdecke ich die Besonderheiten Hamburgs noch einmal ganz neu. Als wir in Övelgönne aussteigen, bleibt er vor den Holz-Segelschiffen am Steg stehen. Ein Motiv, das ich schon gar nicht mehr wahrnehme, so oft laufe ich daran vorbei. Klick. Er fotografiert die Schiffe.
Als wir oberhalb einer Strandbar den schmalen Elbweg an den Häusern vorbeigehen, bleibt er immer wieder stehen und fragt nach. Er macht Bilder von den Rosen, riecht an ihnen, bestaunt die verzierten Türen und alten Fenster. „Leben die Menschen hier wirklich oder machen sie Urlaub?“, fragt er.
Es war Regen für den Tag angekündigt, aber er bleibt auf der anderen Seite der Elbe. Als würde die Sonne die Wolken für ihn wegdrücken. Während wir umhergehen, ist der Weg in flirrendes Licht getaucht. Auch ich nehme alles um uns ganz besonders wahr. Als wir die Blumen in den Gärten betrachten, Schiffe vorbeiziehen, vor uns die Kräne, der Strand und die glitzernde Elbe liegt, spüre ich eine neue Dankbarkeit, in dieser Stadt zu wohnen. Ein stilles Glück im Jetzt.
Ein paar Wochen später schickt er mir Abzüge von den Fotos, die er mittlerweile entwickelt hat. Das Material ist körniger, es zeigt den Elbstrand in besonderem Kontrast. In den Bildern spiegelt sich die Begeisterung wider, die auch mein Spiegelstück verändert hat.
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