Berechnung von CO2-Emissionen: Rechentricks fürs Klima
Auf dem Papier erfüllen die Industrieländer ihre Verpflichtungen aus dem Kioto-Protokoll. Die Realität sieht ganz anders aus, wie eine neue Studie zeigt.
BERLIN/CHONGQING/TOKIO taz | Der Blick auf die zentralchinesische 30-Millionen-Einwohner-Metropole Chongqing raubt einem den Atem. Gleich hinter dem Jangtse erstreckt sich ein gigantisches Industriegebiet. Der Elektronikkonzern Foxconn hat hier seine Fabrikhallen, Ford, Mazda und Hewlett Packard ebenso. Und am Horizont sieht man einen riesigen Industriepark der BASF entstehen. Rauchende Schlote ragen empor, es riecht nach Schwefel.
3.170 Kilometer weiter, in der 35-Millionen-Einwohner-Region Tokio, ist der Himmel strahlend blau. Kaum ein Schleier ist zu sehen. Die meisten Fabrikanlagen, die einst die Hafengegenden von Tokio und Yokohama prägten, wurden abgerissen und durch moderne Wohnhäuser ersetzt. Die Luft riecht angenehm frisch.
Zwischen beiden Orten zeigt sich ein Problem, das die Klimaverhandlungen belastet: In einer globalisierten Welt mit arbeitsteiliger Produktion entstehen neue Ungerechtigkeiten. Nicht nur dass die Treibhausgasemissionen pro Kopf in den Industrieländern nach wie vor deutlich höher sind als bei den ärmeren Ländern, auch die Berechnung der CO2-Emissionen benachteiligt die Schwellenländer.
Konkret geht es um die Frage: Wem werden die "grauen Emissionen" zugerechnet, wenn Textilien, Plastik oder Elektrogeräte zwar in China produziert, aber in den Industrieländern konsumiert werden? Gerade die chinesische Delegation bei den UN-Klimaverhandlungen trägt immer wieder das Argument vor, die Forderungen der Industriestaaten nach Beschränkung der Emissionen in China sei heuchlerisch, weil die Hälfte der chinesischen CO2-Emissionen bei der Produktion für die Industriestaaten anfalle.
Verzerrte Berechnungnen
Jetzt hat eine internationale Gruppe um den Klimaökonomen Ottmar Edenhofer vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung eine umfassende Rechnung erstellt. Fazit: Der Export von Treibhausgasen aus den Industrieländern verzerrt tatsächlich die Berechnungen. "Diese Nettotransfers von Emissionen über den internationalen Handel haben sich von 400 Millionen Tonnen 1990 auf 1,6 Milliarden Tonnen 2008 erhöht", schreiben die Forscher im US-Fachmagazin Proceedings of the National Acadamy of Science.
Nach der Untersuchung von 113 Ländern und 57 Industriezweigen kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass die bisherige Berechnungsweise der weltweiten CO2-Emissionen die Realität nicht korrekt wiedergeben. Zwischen 1990 und 2008 sind die globalen Emissionen von CO2 um 39 Prozent gestiegen. Nach den offiziellen Kioto-Zahlen haben sich die Emissionen der Industrieländer stabilisiert, während die Schwellen- und Entwicklungsländer ihren Ausstoß verdoppelt haben. Diese Sicht der Dinge, "Industrieländer hui, Schwellenländer pfui", vernachlässige die "Verbindungen durch den internationalen Handel", schreiben die Autoren.
Die Experten stellen fest, dass die Industrieländer im Jahr 2008 mehr als das Doppelte an CO2-Emissionen, die sie laut Kioto-Protokoll einsparen mussten, indirekt über Waren aus Schwellenländern importieren. Betrachtet man die realen Reduktionen der Industrieländer, wird das Verhältnis noch schlechter: Fünfmal mehr CO2 entstand in den Schwellenländern für Produkte, die in die Industriestaaten exportiert wurden, als die reichen Länder durch eigene Anstrengungen reduzierten. Insgesamt wurden "zwischen 1990 und 2008 auf diese Weise 16 Milliarden Tonnen CO2 aus den Industrie- in die Schwellenländer verlagert", so die Autoren.
Ganz deutlich zeigen sich diese Verschiebungen in Ländern wie den USA, die einen großen Teil ihrer Produktion ausgelagert haben, die Produkte aber wieder importieren. Da diese Länder keine Reduktionsverpflichtungen unter dem Kioto-Regime haben, verschwinden die realen Emissionen aus den Statistiken.
15 Prozent mehr deutsche Emissionen
Aber auch das Exportland Deutschland hat keine weiße Weste. In dem vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung vorgelegten Report "Global, aber gerecht" heißt es: "Deutschland exportiert einen Betrag an CO2-Emissionen, der etwa 25 Prozent seiner nationalen Emissionen entspricht, während sein Import von CO2 einem Anteil von 40 Prozent entspricht. Berücksichtigt man diesen Handelseffekt, liegen die Emissionen in Deutschland also weit höher" - also um 15 Prozentpunkte über der offiziellen deutschen Zahl.
Auch Felix Ekardt, Professor für Umweltrecht an der Universität Rostock, stellt die klimapolitischen Erfolge Deutschlands infrage: "Ein Drittel der Reduktion schulden wir dem Mauerfall, ein Drittel der Finanzkrise und ein Drittel der Verlagerung von Produktion ins Ausland."
Umgekehrt sieht es in China aus: Dort ist die Hälfte des Wachstums der Emissionen zwischen 2002 und 2005 allein der Ausweitung der Exportproduktion geschuldet. "Mehr als 50 Prozent davon sind direkt dem Konsum in Industrienationen zuzuschreiben", heißt es in der Studie von Edenhofer.
Eine Änderung der Berechnungsmethode, nach der die UN ihre Daten erhebt, ist erst einmal nicht zu erwarten. Auch die Verfasser der Studie plädieren dafür, überhaupt erst einmal mit regelmäßigen Datenerhebungen zur "konsumbasierten Zählweise" zu beginnen und sie neben die bisherige "territoriale Zählweise" zu stellen. Unter den Klimaexperten wird darauf hingewiesen, dass die Berechnung pro Land auch nicht ganz verkehrt sei: Schließlich müssen sich die Länder Emissionen zurechnen lassen, an denen sie durch die Wertschöpfung verdienen und auf die sie mit ihrer Gesetzgebung direkten Einfluss nehmen können.
Die Ungerechtigkeiten in der globalen CO2-Handelsbilanz sind für die meisten Experten kein Grund, das System insgesamt infrage zu stellen, sondern seine Ausweitung zu fordern. Die Probleme würden eingedämmt werden, wenn Emissionen wie in der EU begrenzt und handelbar wären, heißt es.
Vor allem aber sind die Klimaverhandler froh, mit dem Kioto-Regelwerk überhaupt Werkzeuge in der Hand zu haben, mit denen es sich arbeiten lässt. Für Arthur Runge-Metzger, Chefunterhändler der EU-Kommission zu Klimafragen, werden die Kioto-Regeln auch in einem neuen Klima-Abkommen eine zentrale Rolle spielen. "Je mehr wir nach Alternativen suchen, desto mehr kommen wir auf das Kioto-Protokoll zurück."
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