Beobachtungen des Berlin-Vermarkters: "Da bilden sich touristische Ameisenstraßen"
Burkhard Kieker, Chef der Berlin-Tourismus-Marketing GmbH, freut sich, dass der Ansturm auf Berlin nicht nachlässt. Einheimische müssten sich an noch mehr Touristen gewöhnen. Sorge bereitet ihm das Tacheles.
taz: Herr Kieker, Sie kommen gerade aus dem Urlaub zurück. Wo waren Sie denn?
Burkhard Kieker: In der Uckermark. Ich betreibe da mit meiner Familie einen kleinen Biobauernhof.
Burkhard Kieker, 50, ist seit 2009 Geschäftsführer der Berlin Tourismus Marketing GmbH (BTM). Zuletzt war er Sprecher der Berliner Flughäfen.
Berlin ist mit knapp 19 Millionen Übernachtungen hinter Paris und London die Nummer drei in Europa. Nach der Wende hatte die Zahl der Übernachtungsgäste erst sieben Millionen betragen.
Die meisten Besucher kamen 2009 mit 288.497 aus Großbritannien und Nordirland, gefolgt von Italien (252.211), den Niederlanden (238.712, den USA (238.403) und Spanien (192.305). Aber auch die kleinen Länder holen auf. Hohe Zuwachsraten haben Norwegen, Finnland, Polen und die Ukraine.
Die Aufenthaltsdauer der Gäste hat sich in den letzten Jahren verringert. Waren es 1983 durchschnittlich noch 2,8 Tage, sind es 2009 nur noch 2,3 Tage gewesen.
Mit 250.000 Arbeitsplätzen hat der Tourismus in Berlin als Wirtschaftsfaktor Nummer eins die Lebensmittelproduktion und die Tabakindustrie überholt.
Einer Studie zufolge kommen 51 Prozent der Gäste wegen des Nachtlebens an die Spree. Derzeit wirbt Berlin im Ausland mit Strandbars für den "Summer in the City".
Auch bei den Besuchern der Kultureinrichtungen machen die Touristen mit 76 Prozent aller Besucher den Löwenanteil aus, davon etwa 30 Prozent aus dem Ausland. Beim Jüdischen Museum beträgt der Touristenanteil der Besucher sogar 90 Prozent.
2009 war das Jahr des Mauerfalls, 2010 warb Berlin mit der Fanmeile, 2011 kommt die Frauenfußball-Weltmeisterschaft. (taz)
Und die letzte Städtereise. Wohin ging es da?
Almaty in Kasachstan. Eine Zeitreise in die alte Sowjetunion, und drumherum wunderbare Steppen und Wüsten.
Mit Wüsten kann Berlin nicht aufwarten, noch nicht. Was schätzen die Touristen an der Stadt? Nennen Sie uns drei Argumente.
Berlin bietet eine Mischung aus Adrenalin, Chill-Out und Hochkultur. Dazu schätzen die Leute an Berlin das Authentische. Sie lieben es, weil es eine noch nicht verfestigte Stadt ist. Man merkt, dass sich diese Stadt ständig auf spannende Weise wandelt. Das hat eine fast magische Anziehungskraft im Vergleich zu anderen Städten, wo es einen starken kapitalistischen Verwertungsdruck gibt.
Klingt nach Marx und politischer Ökonomie der Tourismuswirtschaft.
Mit kapitalistischer Verwertung meine ich, dass in anderen Städten die Flächen knapp sind. Das treibt die Immobilienpreise in die Höhe und macht vielen schönen Ideen den Garaus. Das ist in Berlin - noch - anders. Übrigens: Gerade weil es im Vergleich zu Madrid, Paris oder New York so viel Platz gibt, ist Berlin eine vegleichsweise unneurotische und auch lässige Stadt.
Der Wandel, von dem Sie sprechen, wird von vielen als Bedrohung empfunden. In der Oranienburger Straße muss die Galerie C/O aus dem Postfuhramt raus, dem Tacheles droht die Räumung. Die Strandbars an der Spree konkurrieren mit Media-Spree.
Berlin hat noch so viel Möglichkeiten, so viele unbesetzte Räume, Fabriketagen, Spreegrundstücke, auf denen man was machen kann. Der Stoff, aus dem diese Träume sind, wird so schnell nicht ausgehen. Dass da auch Dinge verloren gehen, gehört dazu. Man kann nicht auf der einen Seite Metropole sein und auf der andern das Bestehende schockgefrieren wollen.
So gelassen reagiert die Politik nicht. Eher hat man den Eindruck, Berlin fürchtet sich am Ast zu sägen, auf dem man sitzt?
Wo ich Ihnen recht gebe, ist das Tacheles. Das ist ein schwieriges Thema. Das steht in jedem Lonely Planet-Reiseführer, das wollen die Leute sehen. Das Tacheles ist für die jungen Besucher ein Symbol für Berlin. Wir können nur hoffen, dass auch ein neuer Investor das Tacheles als Künstlerort erhält - und nicht irgendwelche Schickimickiläden reinsetzt.
Berlin wirbt international derzeit mit "Summer in the city". Dazu gehören auch die vielen Strandbars. Sie selbst haben versucht, Barbetreiber und Bezirke zusammenzubringen. Mit welchem Ergebnis?
Wir sind alle miteinander ins Gespräch gekommen. Denken Sie nur an die Bar 25, die sollte ja schon letztes Jahr geschlossen haben. Jetzt gab es noch einen herrlichen Sommer an der Spree inclusive Fußball-Weltmeisterschaft. Der Dank dafür geht an die BSR, die das möglich gemacht hat. Wenn der Beamte die Leute oder die Bar kennenlernt, über die er entscheiden muss, hilft das oft ein Stück weiter.
Seit Sie seit Januar 2009 Chef der Berlin Tourismus Marketing GmbH sind, gilt Ihr Augenmerk nicht nur den Leuchttürmen, sondern auch der Subkultur. Hat das auch damit zu tun, dass Ihnen eine Studie vorgerechnet hat, dass 51 Prozent der Berlinbesucher wegen des Nachtlebens kommen?
Ich lebe genau deshalb so gerne in Berlin, weil es diese vielen Seiten hat. Nehmen Sie Oslo, das ist wegen des Öls so reich geworden, dass es darüber langweilig wurde. Deshalb kommen am Wochenende viele junge Norweger mit Low-Cost-Airlines eingeflogen und genießen unsere ziemlich lockere und bezahlbare Szene. Zuviel Reichtum macht bräsig und erstickt die Kreativität. Das ist in Berlin auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.
Inzwischen gibt es in Berlin wie in der Oranienburger Straße oder am Checkpoint Charlie Orte, die nur noch von Touristen aufgesucht werden. Aufregend ist das auch nicht gerade, was die da zu sehen bekommen.
Wir sollten da realistisch sein und uns an den Gedanken gewöhnen, dass das noch zunehmen wird. Wir feiern alle gerne unsere Erfolge, wir freuen uns, dass die Welt uns wiederentdeckt hat und mag. Aber das hat auch Folgen. Noch bin ich mir nicht sicher, ob jeder in der Stadt das begriffen hat. Gucken Sie sich London an oder Paris, und das ist die Liga, in der wir spielen, da hat der Tourismus auch Veränderungen im Stadtbild und im Lebensgefühl mit sich gebracht. Wenn die Wachstumsraten, die wir haben, nur auf halbem Niveau fortgeschrieben werden, wird das Folgen haben.
Welche?
Dass sich mehr solcher touristischen Hotspots bilden, an denen sich die Faszination eines Ortes mehr und mehr zum Abziehbild verwandelt.
Viele Touristen kommen mit einem Bild von einem Ort in Berlin an, das sie von zuhause mitbringen und nun bestätigt wissen wollen?
Dabei ist es womöglich so kommerzialisiert, dass vom eigentlichen Flair nicht viel übrig bleibt. Das sind touristische Ameisenstraßen, die sich da bilden. Die werden im wesentlichen durch die Reiseführer bestimmt. Solche Ameisenstraßen gibt es an der Oranienburger Straße, am Checkpoint Charlie, am Hackeschen Markt, am Kollwitzplatz, am Boxhagener Platz. Erstaunlicherweise finden Sie solche Hotspots weniger am Kudamm oder seinen Seitenstraßen.
Ist das auch ein Hinweis auf die Zweiteilung des Publikums: Die Jungen wollen im Osten Party machen, die älteren Kulturtouristen schauen gern am Kudamm vorbei?
Das lässt sich nicht pauschalisieren. Es sind ja nicht alles Übernachtungsgäste. Wir haben auch 130 Millionen Tagesbesucher im Jahr.
Was bedeuten die verschiedenen Entwicklungen im Berliner Tourismus für die Politik des rot-roten Senats?
Aktuell arbeiten wir an einem Konzept mit, das die Tourismusplanung stärker mit der Stadtplanung verknüpft. Ich glaube, wir sind in Berlin auch deswegen so erfolgreich, weil Wirtschaft, Kultur und Politik hier gut kooperieren. Davon träumen viele meiner Kollegen weltweit, die sich in Kompetenzfragen aufreiben müssen.
Ihr Vorgänger Hanns Peter Nerger hat einmal gesagt, dass der Berlinbesucher ein besseres Bild von Berlin hat als der deutsche von seiner Hauptstadt und inbesondere der Berliner von seiner eigenen Stadt. Ist das immer noch so?
Es hat sich was geändert. Das Berliner Nörgeln hat stark nachgelassen.
Helfen uns die Touristen dabei, ein positiveres Bild von der eigenen Stadt zu bekommen? Auch deshalb, weil wir mal mit deren Augen auf Berlin schauen und Dinge entdecken, die für uns eher selbstverständlich sind?
Der Blickwechsel ist in vollem Gange. Selbst der skeptischste Berliner sagt sich langsam: Irgendwas wird ja dran sein, dass die jetzt alle kommen und sich bei uns wohlfühlen.
Das ist die Schokoladenseite des Tourismus. Aber Touristen können auch ganz schön nerven. Bierbikes, Trabi-Safari, Pubcrawls.
Natürlich verändert der Tourismus die Lebenswirklichkeit einer Stadt. Bei der Fashionweek war ja kaum ein Durchkommen unter den Linden. Auf der anderen Seite hat der Tourismus als Wirtschaftsfaktor im letzten Jahr die Nahrungsmittelproduktion und die Tabakindustrie als nummer eins überholt. In der Branche arbeiten inzwischen 250.000 Leute. Das ist vielen Berlinern auch bewusst.
In Riga oder Krakau hat die Stadt Maßnahmen ergriffen, um den Ballermann-Tourismus einzudämmen. Wann ist in Berlin das Ende der Fahnenstange erreicht?
Ich vermute, dass wir in diesem Jahr die 20 Millionen bei den Übernachtungen erreichen werden. Ich sehe eigentlich überhaupt keine Begrenzung für diese Stadt. Paris ist im Kern dreimal kleiner als Berlin, hat aber doppelt so viele Übernachtungen, ohne dass man genervt ist. London, in der Fläche vergleichbar mit Berlin, hat 80 Millionen Übernachtungen. Da ist also jede Menge Raum nach oben. Ich seh da überhaupt keinen Regelungsbedarf.
Alles Erfolgsgeschichte ohne negative Erscheinungen?
Berlin ist kein typisches Ziel, um sich volllaufen zu lassen, da bin ich froh. Was allerdings ein nerviges Thema ist, sind die vielen Eigentumswohnungen, die als Ferienwohnungen genutzt werden. Es kann nicht sein, dass in der Wilhelmstraße ganze Häuser umfunktioniert werden, und die letzte alte Dame, die da wohnt, rausgenervt wird. Da sehe ich auch Regelungsbedarf. Da sind wir mit dem Senat im Gespräch. Da sollten, was Fluchtwege oder Brandschutz angeht, die gleichen strengen Regeln angewendet werden wie für Hotels.
Gibt es Schätzungen, wie viele Touristen in Ferienwohnungen übernachten?
Wir schätzen, dass wir eigentlich zu den knapp 20 Millionen Übernachtungen noch 20 oder 25 Prozent draufpacken müssen.
Ihr Vorgänger hat immer wieder beklagt, dass er sich bei den Franzosen die Zähne ausbeiße. Nun rangieren Gäste aus Frankreich hinter Italien, Großbritannien, den Niederlanden und Spanien bereits auf Platz 5 der Gäste aus Europa. wie kommt es?
Mund-zu-Mund-Propaganda. Es hat sich vor allem in den romanischen Ländern herumgesprochen, dass Berlin so entspannt, so kreativ ist und man obendrein wunderbar essen kann. Unsere Stadt hat sich zu einem effektiven Killer der üblichen Deutschlandvorurteile entwickelt. Berlin hilft, das Deutschland-Image zu polieren, sagen uns Diplomaten des Auswärtigen Amts.
Auffällig ist, dass der Großteil der europäischen Gäste aus dem Westen kommt. Scheitert Berlin bislang an Osteuropa?
Natürlich ist die Kaufkraft in Osteuropa noch nicht so entwickelt wie im Westen. Dort ist das ja ein Massentourismus. Zweitens gibt es keinen so ausgeprägten Lowcostverkehr. Das bedingt einander. Aber es gibt Zuwächse aus Russland. Berlin wächst automatisch wieder in seine uralte Rolle als Ost-West-Drehscheibe hinein.
Sind da die strengen Visaregelungen ein Hindernis?
Das größte Hindernis für die Tourismusentwicklung ist die restriktive Visapolitik. Da gibt es sicher viele gute Gründe dafür. Ich verstehe aber auch, dass sich Menschen in der Türkei, aus Indien, aus China über Regelungen beschweren, die unwürdig sind. Der gebildete chinesische Millionär, den wir auch gerne hier hätten, fährt nicht erstmal nach Peking, um sich in der Botschaft persönlich vorzustellen. Das empffinden viele als entwürdigend. Unser Appell ist da: Augenmaß walten lassen.
Der Berlintourismus boomt, seitdem es auch Billigflüge nach Berlin gibt. Das aktuelle Sparpaket der Bundesregierung beinhaltet auch eine Steuer für Flugtickets. Ist das eine Bedrohung für den Berlin-Tourismus?
Ja, eine große Gefahr. Es gibt eine Preisgrenze für Spontanbesuche, vor allem bei jungen Leuten. Wenn da der Ticketpreis über 100 Euro steigt, lässt man es bleiben. Wenn nun die Ticketpreise um 10 bis 12 Euro verteuert werden, ist das ein bewusstes Konjunkturdämpfungspaket.
Sie sind jetzt knapp anderhalb Jahre im Amt. Die Fußstapfen ihres Vorgängers seien groß, hieß es. Was ist Ihre persönliche Bilanz?
Es macht meinen Kollegen und mir wahnsinnig Spaß, diese Stadt in der Welt zu vertreten. Die Aufgabe bietet viel Gestaltungsspielraum. Überall werden wir mit großer Neugier und offenen Armen empfangen. Und das Beste liegt für uns Berliner noch vor uns.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin