: Begriffswörterbuch einer Stadt
Dem Bosnier Semezdin Mehmedinovic ist mit „Sarajevo Blues“ ein erstaunlicher Band aus Comics und Erzählungen zum Krieg gelungen. Fragmente reihen sich wie Standbilder eines Dokumentarfilms
„Menschen, denen ich begegne, sprechen nicht über das, was war, sondern sind alle von dem besessen, was jetzt ist; Menschen – Torsos.“ Es ist Krieg in Bosnien. Ein sorgfältiger Beobachter rückt ihm zu Leibe. Er erzählt uns nicht, was er fühlt, er lässt uns durch seine Augen sehen. Auf der Reise durch das belagerte Sarajevo erschrecken und erstarren wir oft, halten inne bei der Wäsche der Toten oder stehen machtlos vor Ruinen und spüren die Kälte des Niemandslands.
Der jetzt auf Deutsch vorliegende Band „Sarajevo Blues“ des bosnischen Schriftstellers Semezdin Mehmedinović ist kein Kriegstagebuch. Es ist vielmehr das Begriffswörterbuch einer Stadt, das einen auf besondere Weise mit der Kriegsrealität in Sarajevo konfrontiert: Mehmedinović fungiert als Zeuge, er hat den Krieg am eigenen Körper erfahren, durchlebt. 1960 in Kiseljak (Zentralbosnien) geboren, studierte er Literaturwissenschaft und Bibliothekswissenschaft in Sarajevo. In den 80er-Jahren war er Redakteur und Herausgeber oppositioneller Zeitungen und schrieb zwei Gedichtbände. Er arbeitete außerdem als Drehbuchautor und Co-Regisseur an dem Film „Mizaldo oder das Ende des Theaters“ mit, der 1995 den Kritikerpreis des Mediterranen Filmfestivals in Rom erhielt.
„Sarajevo Blues“ ist ein Wörterbuch, dessen geschriebene und gezeichnete Einträge wie Standbilder eines angehaltenen Dokumentarfilms wirken. Diese fügen sich einem Puzzle ähnlich zusammen, um ein Bild von Krieg und Belagerung zu vermitteln. Einzeln wirken die Fragmente mitunter fast grotesk und klischeehaft, erst im Zusammenspiel der Kapitel erschließt sich ihre Bedeutung.
Das Buch gliedert sich in drei Teile. „Phantom der Freiheit“ etwa enthält Prosastücke und Gedichte, die Mehmedinović während der Belagerung niederschrieb (erschienen noch 1992 in Sarajevo). Es sind präzise Beobachtungen, lakonisch und nüchtern, die der Autor scheinbar unbewegt anstellt, als würde er neben sich stehen oder nicht anwesend sein. Eine ausgebrannte Wohnung, aus ihren Rahmen gerissene Fotos, weiße Lilien, die aus Granatlöchern sprießen – dies sind die Bilder, die den Leser betroffen machen. „Die Stadt ist einsam und geteilt – die Einheit der Zeit ist zerschlagen.“
Der folgende Teil „Gestern 1 & 2“ besteht aus Gedichten, die Mehmedinović vor dem Krieg schrieb. Der Autor nimmt den Leser auf einen Spaziergang durch das noch friedliche Sarajevo mit: „Das Flimmern eines Flugzeugs über der Vorstadt, während es in der bläulichen Dunkelheit versinkt ... Eine Frau hat einen Ohrring verloren. Nun kehrt sie zurück und sucht nach ihm. Schnell empfinde ich Trauer für sie. Für den Jungen, der sich spiegelt an der Klingel seines Fahrrads.“
„Blow Up“ als abschließende Sequenz des Buches setzt sich aus kleinen Essays und längeren Prosaskizzen zusammen, die dem Leser Ereignisse und gesellschaftliche Verhältnisse, Schicksale und Ansichten von Menschen näher bringen, deren Wege sich mit dem Mehmedinović’ kreuzen: Lebenskünstler, Schriftsteller, Maler. Fast überall unterliegt den Worten die leise Traurigkeit des Blues, die sich wie ein roter Faden durch Bilder, Fragmente und Momentaufnahmen zieht. Mehmedinović schreibt über Verlust, Sehnsucht nach Liebe, Freiheit und Heimat. Seit 1996 lebt er in den USA. Emotional ist der Autor noch immer mit seiner Stadt verbunden. Zu einer möglichen Rückkehr befragt, äußerte Mehmedovic kürzlich: „Ich brenne darauf ... Doch der Krieg hat mich gelehrt, keine Pläne mehr zu machen.“ ANJA RUMMICH/OLIVER RITTWEGER
Semezdin Mehmedinovic: „Sarajevo Blues“. Aus dem Bosnischen von Harris Dajic. Hainholz-Verlag, Göttingen 1999, 160 Seiten, 29,80 DM
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