Bedeutung von Marktplätzen: Orte der Begegnung
Antikes Wissen kann in einer zerfallenden Gesellschaft nicht schaden. So erkundet der Ethikrat auch im Fitnessstudio aktuelle Spielarten der Agora.
K ürzlich war ich in einem Fitnessstudio, um herauszufinden, ob meine sportliche Zukunft dort liegen könnte. Meine sportliche Vergangenheit liegt beim Yoga, das ich wegen Freudlosigkeit und Erleuchtungsanteilen aufgegeben habe. Ich habe auch Tennis und Boxen und andere Sportarten probiert, für die ich zu wenig motorisches Talent besitze. Mir scheint, dass man sich Sportarten auswählt wie bestimmte Hunderassen, Parcourslaufen etwa, weil man etwas Windhundartiges gewinnen möchte, aber ich musste erkennen, dass ich kein Windhund bin.
Ich saß in einem zellenartigen Trainingsgerät, von dem ich nicht wusste, wie es funktionierte, als ich den Ethikrat durch die Tür kommen sah. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Der Rat trug Gymnastikhosen und Turnschläppchen, die seine Würde nicht beeinträchtigen konnten.
Eines der Mitglieder, die in der Regel schweigen, trug einen Korb, in dem eine Wasserflasche und drei Birnen lagen. „Guten Tag, Frau Gräff“, sagte der Ratsvorsitzende und nickte mir aufmunternd zu, „erproben Sie sich am Ellipsentrainer?“ „Nicht ausgeschlossen“, murmelte ich und zerrte ergebnislos an einer Stange. „Und Sie?“
„Wir erkunden aktuelle Spielarten der Agora“, sagte der Ratsvorsitzende, während die beiden Mitglieder, die in der Regel schweigen, zwei fahrradartige Geräte bestiegen. „Agora?“, sagte ich mürrisch, denn es genügte mir, motorisch mangelhaft zu sein. „Der antike Marktplatz“, rief eines der Ratsmitglieder von seinem Fahrrad herüber, „der Ort, an dem sich die Polis versammelte.“ „Das kann man schon wissen“, sagte ein bulliger Mann, der neben uns auf einer Art Streckbank lag. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht gehört. „In Zeiten, in denen die Gesellschaft immer partikularer wird, sind Orte, an denen sie sich schichtenübergreifend trifft, um so bedeutsamer“, sagte der Vorsitzende und klopfte probeweise auf eine der Stangen an meiner Zelle. „Vielleicht ziehen Sie einmal hier.“
Die verlorene Agora: Karstadt und Volkshochschulen
„Ist das nicht eine der Ideen, die theoretisch hoch und praktisch klein gehalten werden?“, sagte ich und zog aus Prinzip nicht an der Stange. „Ich meine, statt in den Turnverein schickt die Mittelschicht ihre Kinder in die Zirkusschule, weil es hipper und nebenbei exklusiver ist.“ Ich stoppte, weil mir selbst das Beispiel nur mittelgut schien, aber auch, weil der bullige Mann sich zu uns beugte. Der Ethikrat ist als ethische Anlaufstelle in vielem zweifelhaft, dennoch will ich ihn nicht mit bulligen altklugen Männern teilen.
„Ich sehe die Bedeutung der Agora“, flüsterte ich, „aber wo finden Sie denn heute noch etwas Vergleichbares? Es gibt ja nicht mal mehr die Kaufhäuser. Wenn man notwendigerweise aufeinander stößt, etwa im Bus, macht man einen Videocall oder hört einen Podcast über die zerfallende Gesellschaft und klinkt sich damit unansprechbar aus ins Private.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ich stoppte erneut. Dies war nicht der Tag besonders guter Argumente, es sei denn, man ließe Karstadt als verlorene Agora durchgehen. „Vielleicht noch in der Volkshochschule“, fuhr ich fort, „wo man gemeinsam etwas lernen möchte.“
„Ich finde ja die Verbindung zu den Volksuniversitäten bemerkenswert“, sagte der bullige Mann und legte seine Hantel beiseite, „gerade in ihrer Betonung der plebejischen Tradition.“ „In der Tat“, sagte der Ratsvorsitzende interessiert und setzte sich neben ihn auf die Streckbank. Die beiden anderen Ratsmitglieder stellten den Korb mit den Birnen zu ihnen.
Ich zog an der Stange meines Trainingsgeräts, das sich über mich stülpte wie ein Käfig. „Ich bin gefangen“, rief ich, aber niemand hörte mir zu.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!