Bauschlamperei in Berlin: Ins Wachkoma gestürzt
Eine junge Frau verletzt sich auf einer ungesicherten Baustelle schwer. Selbst schuld, sagt das Land Berlin – und entzieht sich der Verantwortung.
Am letzten Donnerstag eilt Rainer Ruis durch die Aula der Max-Taut-Schule in Berlin-Lichtenberg. Der pensionierte Polizeibeamte verteilt Flugblätter, stellt eine Infotafel im Foyer auf, geht ans Mikro. Es ist Bundeskoordinatorentag, das jährliche Treffen aller, die mit Arbeitsschutz auf Baustellen zu tun haben. Ausgerechnet hier stürzte Ruis‘ Tochter Anja, damals 33, im August 2005 durch eine Deckenöffnung vier Meter tief. Die Bauingenieurin erlitt schwerste Gehirnverletzungen, liegt seitdem im Wachkoma. Ein Pflegefall.
Anja Ruis sollte für ihren Auftraggeber, den renommierten Schweizer Architekten Max Dudler, Fotos in der Max-Taut-Schule machen. Die Bau des renommierten Architekten aus der Weimarer Republik war verfallen und wurde jahrelang rekonstruiert.
Die Baustelle war entgegen allen Vorschriften ungesichert, darüber lassen die Protokolle keinen Zweifel. Nach einem Ortstermin auf der Baustelle am Tag nach dem Unfall heißt es in einer Notiz der zuständigen Senatsverwaltung: Anja Ruis „stürzte aufgrund nicht vorhandener Absperrung in die Tiefe“. Und: „Die Bauarbeiten sind einzustellen.“ Die Verantwortung scheint eindeutig zu sein: Das Land Berlin hat nicht für die Bausicherheit gesorgt. Das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit (LaGetSi) fordert kurz nach dem Unfall, zukünftige Stürze durch Absturzsicherungen und Fangnetze unmöglich zu machen.
Aber dann beginnen die Versuche der Verantwortlichen, sich von Schuld reinzuwaschen. Ruis ist selbst schuld, so bald der Tenor. Die Bauingenieurin sei erfahren gewesen, habe seit Langem mit der Baustelle zu tun gehabt und habe wissen müssen, dass sie den Bereich nicht habe betreten dürfen. Ein Argument, mit dem sich viele Absicherungen im Hochbau sparen ließen.
Aber die Bauverantwortlichen kommen mit dieser Argumentation durch. Das Strafverfahren gegen den Bauleiter wird eingestellt, auch die zivilrechtlichen Ansprüche werden abgewiesen. In den Verhandlungen seien der Justiz grobe Fehler unterlaufen, moniert Rainer Ruis: So sei er trotz seines Antrags im Strafverfahren gegen den Bauleiter nicht als Nebenkläger eingeladen worden, das LAGetSi sei nicht als Zeuge gehört worden. Alle Einsprüche nützen nichts: Auch die höheren Instanzen weisen alle Klagen ab.
Krähen unter sich
Im Januar 2015 weist auch der Petitionsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses eine Eingabe von Rainer Ruis zurück: „Es steht unzweifelhaft fest, dass die Baustelle im Sommer 2005 nicht abgesichert war“, schreibt Ausschussvorsitzender Andreas Kugler (SPD). „Zugleich haben die Gerichte abschließend entschieden, dass Ihre Tochter genügend Fachkenntnisse hatte, um zu wissen, dass sie sich selbst gefährdet und dies die Haftung der Beteiligten ausschloss.“ Und gegen die Gerichtsentscheidungen könne der Petitionsausschuss nichts unternehmen.
Das ist formal richtig, bestätigt aber den Verdacht von Rainer Ruis, dass im Fall seiner Tochter eine Krähe der anderen kein Auge aushackt. Wäre seine Tochter bei einem privaten Bauvorhaben in die Tiefe gestürzt, hätte man die Verantwortlichen längst verurteilt, glaubt er. Ruis war im Unterstützerkreis von Gustl Mollath, seinen Glauben an die Unfehlbarkeit der Justiz hat er dort verloren. Nun nervt er sie weiter: mit Strafanzeigen gegen den Berliner Justizsenator wegen Beihilfe zur Strafvereitelung. Viel bringen dürfte das kaum.
Ein dauerhafter Pflegefall
Seit Donnerstag hat Ruis auch eine Website freigeschaltet: www.bauunfall-max-taut-schule.de. Beim Bundeskoordinatorentag bleibt das Echo verhalten. Nur einige sprechen Ruis an, bevor er nach Nürnberg zurückfährt. Anja Ruis ist dort in einem Pflegeheim untergebracht, Rainer Ruis und seine Familie besuchen sie täglich.
Anja Ruis kann seit einiger Zeit wieder mit den Augen Vorgänge verfolgen. „Es kann sogar sein, dass sie alles mitbekommt, sich aber nicht mitteilen kann“, sagt ihr Vater. Sie wird ein Pflegefall bleiben.
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