Barrierefreies Wohnen in Berlin: Vermieter klagt gegen Inklusion
Ohne Rampe kann Nikola Arsic das Haus, in dem er lebt, nicht alleine betreten – er ist Rollstuhlfahrer. Doch die Gewobag sträubt sich gegen den Umbau.
Der Satz klingt schön, lässt aber vieles offen. Zum Beispiel, wer „gewährleisten“ muss und was das genau bedeutet. Dass schöne Sätze allein keinen Sommer machen, erfahren gerade Dennis Kuhlow und sein Ehemann Nikola Arsic, der im November 2020 bei Kuhlow im 10. Stock eines 70er-Jahre-Wohnblocks in Kreuzberg einzog. Der 32-jährige Arsic ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Aus diesem Grund bemüht sich das Paar seit dem Einzug des Serben um den Einbau einer Rampe, denn der Hauseingang ist bislang nur über sechs Stufen zu erreichen. Infolgedessen kann Arsic das Haus nur mit Hilfe seines Ehemanns – oder von herbei gerufenen Nachbarn – betreten und verlassen.
Doch der Versuch Abhilfe zu schaffen scheiterte bislang am Vermieter – und der ist nicht irgendeiner sondern die landeseigene Wohnungsbaugesellschaft Gewobag. Erst reagierte man über Monate gar nicht auf Kuhlows Briefe, dann lehnte man den Bau einer Rampe mit immer neuen Begründungen – zu teuer, zu gefährlich, unnötig – ab, wie der Schriftverkehr zwischen den Beteiligten zeigt, der der taz vorliegt.
Schließlich wurde es Kuhlow zu bunt und er reichte Klage ein nach Paragraf 554 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Dort heißt es in Absatz 1: „Der Mieter kann verlangen, dass ihm der Vermieter bauliche Veränderungen der Mietsache erlaubt, die dem Gebrauch durch Menschen mit Behinderungen (…) dienen.“
Konzern geht in Berufung
Tatsächlich verurteilte das Amtsgericht die Gewobag im März, den Einbau einer Rampe vor dem Haus zu gestatten. Doch die will immer noch nicht. Der Konzern, der mit dem Slogan „Die ganze Vielfalt Berlins“ wirbt und über 72.000 Wohnungen in der Stadt sein eigen nennt, geht in Berufung.
Warum wehrt sich ein landeseigenes Unternehmen mit Händen und Füßen gegen eine Maßnahme, die politisch erwünscht und notwendig ist und offenkundig nur Vorteile für alle bringt? „Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu dem laufenden Gerichtsverfahren derzeit nicht näher äußern“, erklärt die stellvertretende Pressesprecherin auf taz-Anfrage.
Die Gründe, die das Unternehmen bislang vorbrachte, sind wenig überzeugend. So hieß es im ersten Schreiben, „wirtschaftliche Gesichtspunkte“ sprächen gegen eine Rampe, zudem fordere sonst niemand im Haus eine solche (als ob das nötig wäre) – und die Wohnungen würden dadurch auch nicht barrierefrei.
Letzteres stimmt insofern, als die Atelierwohnung mit Blick über halb Berlin keine „behindertengerechten“ Türstürze oder Badinstallationen hat – doch der sportliche Arsic kommt mit seinem wendigen Rollstuhl gut zurecht. Außerdem sei es nicht Sache seines Vermieters darüber zu entscheiden, wo er wohnen kann, findet er – „das weiß ich schon am besten“.
Alles schon organisiert
Das Geld-Argument zieht ebenfalls nicht, denn die Gewobag müsste die Rampe nicht einmal bezahlen: Arsics umtriebiger Mann, der als Co-Geschäftsführer die Kneipe „Südblock“ am Kotti mit aufzog, konnte erreichen, dass das Sozialamt Friedrichshain-Kreuzberg seine Unterstützung zusagt, die Kosten belaufen sich auf rund 25.000 Euro. Arsic, von Beruf Architekt, entwarf zudem selbst den Bauplan nach DIN-Norm, den ein anderer Architekt prüfte und für sicher, sinnvoll und die beste Lösung erklärte.
All dies überzeugte das Gericht, wie in der Urteilsbegründung nachzulesen ist. Ebenso Arsics in der Verhandlung vorgebrachte Schilderung, warum für ihn eine Rampe besser sei als ein elektrischer Lift – den die Gewobag kurz vor Prozessbeginn als Kompromissangebot ins Spiel gebracht hatte. „Eine Rampe ist praktisch wartungsfrei, ein Lift geht andauernd kaputt“, sagt Arsic.
Im schriftlichen Urteil heißt es dazu: „Diese Einschätzung deckt sich auch mit der Erfahrung des Gerichts, wobei exemplarisch der Treppenlift an der Rückseite des Gerichtsgebäudes benannt werden kann, der bereits seit mehreren Monaten defekt ist.“ Überzeugend fanden die Richter auch Arsics Schilderung, dass eine Rampe für ihn eine „erhebliche Zeiteinsparung“ bedeute: Mit Lift dauere es 4 bis 6 Minuten das Haus zu betreten oder zu verlassen – mit Rampe nur wenige Sekunden.
Die Argumente der Gewobag fanden dagegen kein Gehör: Eine Rampe sei kein „erheblicher Eingriff in die Bausubstanz“, heißt es im Urteil – im Gegenteil stelle sie sogar eine „dauerhafte Wertverbesserung“ dar. Sie verkleinere auch nicht die Feuerwehrzufahrt oder den Bürgersteig, da sie nach Arsics Bauplan durch einen Grünstreifen führen soll. Nicht ersichtlich sei zudem, weshalb die Rampe die Unfallgefahr erhöhen soll – schließlich entspreche sie den DIN-Normen für barrierefreies Bauen. „Unsubstantiiert“, so die Richter, sei zudem der „Vortrag der Beklagten, dass eine Rampe zu einer Erhöhung der Prämie der Gebäudehaftpflichtversicherung oder der Kosten für den Winterdienst führen könnte“.
Zu lasche Gesetze
Dass Vermieter sich mit allen mögliche Argumenten gegen die barrierefreie Umgestaltung von Wohnraum wehren, hat die Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderungen, Christine Braunert-Rümenapf, schon oft erlebt. „Manche Hausverwaltungen sind sehr entgegenkommend, aber öfter wehren sie sich leider gegen Umbauten mit Händen und Füßen“, sagte sie der taz.
Dem sei kaum beizukommen, „denn die gesetzlichen Vorgaben sind zu schwach“, vor allem weil es keine Verpflichtung für private Wohneigentümer gibt, ihren Bestand barrierefrei zu gestalten. Nur beim Neubau gibt es die Vorgabe, dass Gebäude mit Aufzug (also ab 5 Stockwerken) zu 50 Prozent barrierefreie Wohnungen haben müssen. Auch die Kostenfrage sei „kompliziert“, erklärt Braunert-Rümenapf: Grundsätzlich müssten sich Betroffene selber kümmern, etwa um einen Zuschuss über das Sozialgesetzbuch.
Wie vielen Menschen in Berlin es wie Arsic geht, dass sie in Wohnungen leben, die sie durch Barrieren einschränken, kann die Behindertenbeauftragte nicht sagen: „Wir wissen zu wenig über den Wohnungsbestand.“ Das werde sich aber bald ändern, hofft sie: Im Zensus werde erstmals die Barrierefreiheit beim Wohnraum abgefragt.
Auch Remzi Uyguner von der Berliner Fachstelle gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt „Fairmieten-Fairwohnen“ sagt, Menschen mit Behinderung seien „sehr oft“ institutioneller Diskriminierung ausgesetzt. Dass sich dabei ausgerechnet die Gewobag hervortut, sei besonders ärgerlich. Der Aufsichtsrat müsse die Entscheidung in Berufung zu gehen revidieren, fordert er. „Als landeseigenes Wohnungsunternehmen ist die Gewobag angehalten, den strukturell besonders benachteiligten Gruppen beizustehen.“
LADG hilft auch nicht
„Zwingen“ kann man ein landeseigenes Unternehmen dazu offenbar nicht – auch nicht mit dem Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG). Das neue Gesetz verbietet der Berliner Verwaltung sowie öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des Landes, Menschen zu diskriminieren, etwa aufgrund einer Behinderung.
Für „privatrechtlich geführte Beteiligungsunternehmen des Landes Berlin“ wie die Gewobag gelte das Gesetz jedoch nur mittelbar, erklärt die Leiterin der Ombudsstelle, Doris Liebscher. Sprich: Hier müsse Berlin zum Beispiel über den Aufsichtsrat sicherstellen, dass die Landesunternehmen das Gesetz anwenden. Einen individuellen Rechtsanspruch gegen die Gewobag hätten Bürger dagegen nicht aus dem LADG, es verpflichte die Gewobag auch nicht direkt, mit der LADG-Ombudsstelle zusammenzuarbeiten, wenn diese dennoch eine Diskriminierung feststellt.
„Deshalb“, sagt Liebscher, „haben wir mit der Senatsverwaltung für Bauen und Wohnen (SenSBW) und den Wohnungsbauunternehmen eine Vereinbarung getroffen, dass Beschwerden der Ombudsstelle beantwortet werden“. Das klappe grundsätzlich auch gut.
Im Fall Kuhlow/Arsic-Gewobag hatte die Ombudsstelle die zuständige Senatsverwaltung um Stellungnahme gebeten. Die damalige Staatssekretärin für Stadtentwicklung und Wohnen, Wenke Christoph (Linke), antwortete im August 2021 jedoch mit einem Schreiben, dass Sichtweise und Argumente der Gewobag 1:1 wiedergibt. „Wir sind nicht einmal befragt worden“, beschwert sich Kuhlow.
Dass die Politik hier so wenig machen kann oder will, mag Kuhlow und Arsic nicht in den Kopf. „Es kann doch nicht sein, dass keiner einen Hebel hat, um die Gewobag zu einer anderen Haltung zu zwingen“, sagt der 46-jährige Kuhlow, den der lange Kampf immer zorniger macht. Dass der Konzern tatsächlich in Berufung gehen will, „offenbart eine klar behindertenfeindliche Haltung“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken